Wintermärchen

Ortstermin Düsseldorf 5

 

427 Seiten

 

 

ISBN 979-8321908822


Leseprobe

  

 

 

 Prolog 

im November

 

Im traurigen Monat November war es, als ich in Gummistiefeln und Regenkombi, die ich mir im Gang neben der Zugtoilette übergezogen hatte, den RE 57 in Winterberg verließ, um noch einmal an den Ort zurückzukehren, an dem mein Leben den scharfen Knick genommen hatte, der bis heute seine Richtung bestimmt. 

   Mir war klar, dass die geplante Wanderung - noch dazu zu dieser Jahreszeit - kein Spaziergang, geschweige denn ein Vergnügen werden würde. Ungefähr sieben bis acht Kilometer durch Wald, Matsch und über Schotter bergauf, bergab lagen vor mir. Es goss in Strömen. Der Wind wirbelte Blätter, kleine Zweige und sogar winzige Steine hoch. Ich ging gebeugt und war froh, als ich den Waldrand erreicht hatte. Tatsächlich wurde mein Marsch zu diesem Zeitpunkt ein klein wenig angenehmer. Die Bäume hielten einen Teil des Regens ab und erwiesen sich zudem als Windbrecher.

   Ausnahmsweise also einmal: »Danke, Wald!« Seit besagter Vorfall in deinem von Romantikern umschwärmten, ach so grünen Szenenbild mein Leben auf den Kopf gestellt hat, war ich mir eigentlich sicher, dich abgrundtief zu hassen. Jetzt stellte ich fest, dass meine Abneigung nachgelassen hatte. Mittlerweile bist du mir beinahe gleichgültig, Wald. 

   Mach du deinen Job, friss CO2 und sorg für Regale, Weihnachtsbäume und gute Luft, dann mache ich meinen. Wenn wir uns dabei nicht in die Quere kommen, umso besser. Du bist nicht an mir interessiert und umgekehrt gilt das Gleiche. Für mich bestehst du aus Birken und Bäumen. Bei den Bäumen kann ich gerade noch unterscheiden, ob Laub oder Nadeln an den Zweigen hängen.

  An diesem Tag hing im Sauerland aber an vielen Ästen fast gar nichts mehr, was wohl am erfolgreichen Wirken des Borkenkäfers lag. Selbst ich - der am Wald desinteressierteste Mensch dieses Landes - hatte mitbekommen, dass es beim Kampf Käfer gegen Baum kurz vor Ende der regulären Spielzeit 10:0 für den Käfer stand. 

   Diese Gedanken begleiteten mich die nächsten drei bis vier Kilometer meines überaus langweiligen Weges. Mit mildem Interesse nahm ich die sterbenden oder schon toten Bäume an meinem Weg wahr. Aber selbst diese lauwarme Aufmerksamkeit erlosch, denn jedes Spiel wird langweilig, wenn man nicht mitfiebernder Fan eines der beiden Teams ist. Und mir waren offen gestanden die Käfer genauso gleichgültig wie die Bäume. 

   Beim Rest der Strecke habe ich einfach nur noch Fuß vor Fuß gesetzt und gehofft, die nasse und stürmische Quälerei würde möglichst bald ein Ende nehmen. Zwischendurch habe ich auf meinen Kompass gestarrt, um nur ja keinen Umweg zu riskieren.

   Dann war ich da. Es gab keinen Zweifel, wenn auch hier der Borkenkäfer die Fichten oder Buchen oder was weiß ich - Birken waren es jedenfalls nicht - kaum zu ihrem Vorteil verändert hatte. Aber da war der kleine Bach, da lag der Felsbrocken, der mit ein bisschen Phantasie immer noch aussah wie ein schlafender, zusammengerollter Braunbär, und direkt dahinter führte der Pfad nach unten, den Hügel hinab, den wir in jener Nacht so verzweifelt abgesucht hatten.

   Ich setzte mich auf den nassen Felsen und atmete so ruhig durch, wie das nach dem anstrengenden Weg und der psychischen Belastung durch diesen verhassten Ort möglich war. Trotz aller Widrigkeiten war der Besuch dieses Point Nemo im Sauerland unvermeidbar gewesen. 

   Meine Entscheidung hatte natürlich schon vorher festgestanden, die Vorbereitungen waren beinahe abgeschlossen, aber was mir gefehlt hatte, um tatsächlich den ersten Dominostein umzuwerfen, war der Spirit dieses Ortes. Jetzt war ich so weit. Die Spiele waren eröffnet. Die Morde konnten beginnen.

 

 

 

Kapitel 1

Sonntag, 12. November

 

Wie bei jedem seiner Auftritte war Till Schleier ganz in Schwarz gekleidet. Er fand dieses Outfit angemessen. Seine Kleidung sollte nicht ablenken von seinen Aussagen und außerdem fand er, dass ihm Schwarz hervorragend stand. Es ließ ihn etwas größer und schlanker wirken und betonte sein prägnantes Gesicht. 

   Die Bühne teilte er sich mit seinem langjährigen beruflichen Partner Patrick Neubert, der an einem so weit seitlich aufgestellten Flügel saß, dass keinerlei Zweifel aufkommen konnten, wer hier die Hauptperson war. Im Hintergrund leuchtete Schleiers Logo, die Narrenkappe Till Eulenspiegels.

   Seine Eltern waren bei der Wahl seines Vornamens offenbar bereits durch den Kabarettgott beeinflusst worden. Auch später blieb der Schelm aus Mölln stets präsent. Bereits als Kind kannte Till jede Geschichte seines Namensvetters in- und auswendig und auch bei seiner Berufswahl wurde er durch sie beeinflusst. Wenn man schon Till hieß, war man doch wohl zum Spötter geboren. Er hatte seine diesbezügliche   Entscheidung bisher nicht bereut.

   Till Schleier sah auf die Wanduhr, die in seiner Blickrichtung direkt neben dem Ausgang des Zuschauerraums des P(l)ayback-Theaters angebracht war. Immerhin wusste er in diesem Saal punktgenau, ob er ein wenig Gas geben musste oder noch ein paar geistreiche Gedanken einflechten konnte. Das war aber auch der einzige Vorteil dieser kleinen Bühne. Er trat natürlich viel lieber im renommierten Kom(m)ödchen auf, das nicht nur mit deutlich mehr Zuschauerplätzen punkten konnte. Aber das Leben war kein Wunschkonzert und seine fünf Vorstellungen in dieser Woche hier im P(l)ayback waren ausverkauft - also was wollte man mehr? Und für den Dezember waren drei TV-Auftritte geplant. Es lief für Till Schleier.

   Er verständigte sich per Blickkontakt mit Patrick, der seine Hymnennummer daraufhin etwas abkürzte. Es ging dabei um Nationalhymnen mit aktuell verfremdeten Texten, die gerade in die politische Landschaft der jeweiligen Nation passten. Patrick hatte etwa zwanzig Hymnenstrophen im Repertoire, sang und spielte noch die niederländische zu Ende und nahm dann den freundlichen Applaus entgegen.

   »Mögen Sie Märchen?«, fragte Till Schleier das Publikum. Er war gespannt auf die Reaktion seiner Zuschauer. Heute gab er seine neue Nummer zum Thema Wokeness zum ersten Mal zum Besten. Er hatte sie für den wichtigsten seiner kommenden Fernsehauftritte eingeplant, war sich aber ganz und gar nicht sicher, wie sie wohl ankommen würde. Gerade bei Wokeness schieden sich die Geister. Das TV-Publikum war durchschnittlich konservativer als die Menschen, die ihm beispielsweise im Zakk lauschten. Hier, vor nur etwa hundert Leuten, die er für halbwegs repräsentativ hielt, bot sich eine gute Gelegenheit für einen ersten Testlauf.

   »Fast alle mögen doch Märchen, sei es nun ›Dornröschen‹, ›Aschenputtel‹ oder ›Schneewittchen und die sieben Zwerge‹. Ich mag ganz besonders ›Schneewittchen‹, was daran liegt, dass der allererste Film, an den ich mich erinnern kann, der alte Disney-Klassiker von 1937 war, in dem das leidgeprüfte schneeweiße Schneewittchen Asyl fand bei den lustigen Zwergen Happy, Schlafmütz, Pimpel, Hatschi, Brummbär, Seppl und Chef.

   Weil 1937 natürlich nicht alles gut war in dieser unserer Welt und weil nach mehr als achtzig Jahren wohl inzwischen alle Kinder diesen Film gesehen haben, die grundsätzlich Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Trinkwasser und Disney-Filmen haben, überlegten die Marketing-Strategen des Disney-Imperiums, es sei doch wirklich Zeit für ein Remake, das übrigens 2024 in die Kinos kommen soll, und zwar nicht etwa als neuer Zeichentrick-, sondern als Realfilm.«

   Das läuft nicht rund, dachte Schleier. Bisher gab es nicht die geringste Reaktion. Waren die Leute hier etwa zu dämlich für den Witz, Trinkwasser und Disney-Filme als gleichwertig auf eine Stufe zu stellen?

   »›Vorsicht!‹, schrien sofort die hochbezahlten Mitarbeiter aus der Rechtsabteilung und dem konzerninternen Ressort für Gleichstellung und gegen kulturelle Aneignung und wischten sich die Reste ihrer gerade verzehrten Schaumküsse aus den Mundwinkeln.«

   Till hörte neben vereinzeltem Lachen das Scharren von Stuhlbeinen. Ein Paar tastete sich durch die Reihe zum Rand hin und verließ den Zuschauerraum. Immerhin ohne Türknall. Außerdem: Was waren schon zwei Prozent? Der Rest blieb sitzen. 

   »›Vorsicht! Was stellt ihr Drehbuchautoren und ihr Leute vom Casting euch denn vor? Wollt ihr euch etwa auf die Suche nach sieben Kleinwüchsigen machen und diesen armen, ohnehin beeinträchtigten Menschen auch noch alberne Zipfelmützen aufsetzen?

   Und was ist mit Schneewittchen selbst? Wie arisch muss sie denn sein mit einer Haut weiß wie Schnee? Halt, nein«, unterbrach er sich selbst, als ob ihm gerade erst der Widerspruch aufgefallen wäre, »sie soll ja keine blonden Zöpfe, sondern schwarzes Haar haben. Da sucht ihr vielleicht besser in der Twilight-Castingkartei nach einer Hauptdarstellerin.‹«

   Und wieder nur ein dumpf schweigendes Auditorium. Was waren das nur für Leute? Aber ein Abbruch kam nicht infrage. Durch diese Nummer mussten sie jetzt durch, das Publikum, aber auch er selbst. Also fuhr er unbeirrt in seinem Text fort:

   »›Kein Problem‹, sagte jemand von der Produktion, der schon länger am Schneewittchen-Projekt arbeitete. ›Das haben wir natürlich alles im Griff. Wir nennen sie nicht mehr Zwerge, sondern magische Wesen, und divers sind sie natürlich auch. Wo kämen wir denn sonst hin? Wir besetzen sie mit fünf Männern in Durchschnittsgröße, einer Frau und nur einem einzigen Kleinwüchsigen. Sämtliche Ethnien werden berücksichtigt bis auf den asiatischen Typus. Aber dass man den in Hollywood ignoriert, ist man in Asien schon beinahe gewöhnt. Da wird es keine Proteste geben.‹« Ein weiteres Paar verließ den Zuschauerraum. Diesmal wurde die Tür etwas lauter geschlossen.

   Till Schleier machte trotzig weiter. Was blieb ihm auch anderes übrig? »›Mit der LGBTQ+-Community tun wir uns etwas schwerer, schließlich soll es ein Kinderfilm werden, aber eines der magischen Wesen mit Bart könnten wir vielleicht in Frauenkleidung stecken. An dem Problem arbeiten wir noch. 

   Bei der Besetzung von Schneewittchen haben wir einen Kompromiss gefunden. Nachdem die Hälfte der Entscheidungsträger*innen sich für eine Frau mit afrikanischen Wurzeln ausgesprochen hatte - gegebenenfalls mit Haaren, weiß wie Schnee - und die konservativere Gruppe auf dem schwarzhaarigen hellhäutigen Typus beharrt hat, haben wir uns für eine Latina entschieden, unter anderem übrigens deshalb, weil es sich um eine gute Schauspielerin handelt, ein Gesichtspunkt, den man beim Casting eines Films vielleicht am Rande auch berücksichtigen sollte.‹«

   Schleier schaute unbehaglich in die Runde. Die Reaktion des Publikums fiel bei Weitem nicht so enthusiastisch aus, wie er gehofft hatte. Eigentlich fiel sie ganz aus. Dabei musste sich doch die Absurdität dieses Themas jedem sofort erschließen. Aber es hatte nur vereinzeltes Lachen gegeben. Vielen war es offenbar bei dieser Thematik im Hals steckengeblieben. Oder die Leute fanden seinen Text einfach nicht lustig, was er sich aber nicht wirklich vorstellen konnte.

   »Trotzdem liebe ich Märchen«, behauptete Till, »allein schon wegen der wunderbaren Sprache der Gebrüder Grimm oder von Hans-Christian Andersen. Warum können wir sie nicht einfach als historische Texte so, wie sie sind, akzeptieren, die in einer ganz anderen Zeit entstanden sind, und in solchen Fällen über Gender- und Wokeness-Gesichtspunkte hinwegsehen? Warum können sich die Drehbuch-Autoren nicht einfach neue Plots ausdenken, die in der Jetztzeit spielen und unsere heutigen Wertvorstellungen widerspiegeln, anstatt die alten Geschichten zu vergewaltigen?

   Warum regen wir uns über sieben Zwerge auf, die die Grimms im Jahr 1812 ihrer Sammlung hinzugefügt haben, und versuchen krampfhaft, sie mit einer Zeitmaschine in die politisch korrekte Gegenwart zu beamen? Das verstehe ich nicht. Ich verstehe allerdings vieles nicht mehr. Vielleicht liegt das an meinem fortgeschrittenen Alter.« 

   An dieser Stelle hätte Till Schleier gern ein wenig gemurmelten Protest gehört, aber auch der blieb zu seinem Leidwesen aus.

   »Stellen Sie sich mal vor, wir würden aufs Gendern und das ganze Wokeness-Gedöns auf sprachlicher und kultureller Ebene verzichten und diese Gedanken, statt sie verbal breitzutreten, ganz einfach leben. 

   Sie würden dann keine kirchliche Institution mehr durch Ihre Steuergelder subventionieren, die sich offen homophob weigert, Menschen zu verheiraten, die nicht dem klassischen Mann-Frau-Schema entsprechen, eine Institution, die stattdessen aber die Frucht der von ihr gesegneten Verbindungen konsequent missbraucht.

   Sie würden nichts mehr von Firmen kaufen, die sich über Equal Pay hinwegsetzen und auf diese Weise Frauen diskriminieren.

   Sie würden durch Proteste und Aktionen dafür sorgen, dass Menschen, die auf Rollstühle angewiesen sind, nirgendwo mehr vor unüberwindlichen Treppenstufen stehen. 

   Sie würden als Vermieter einer Wohnung nicht die alleinstehende ältere Dame mit der gesicherten Pension auswählen, sondern die Familie mit kleinen Kindern und Migrationshintergrund. 

   Sie würden jeden anderen Menschen einfach freundlich und respektvoll behandeln, egal welche Haut-, Haar- und Augenfarbe er, sie oder irgendwas dazwischen hat. 

   Dann hätten wir das Gender-Gemetzel an unserer Sprache und Filme mit magischen Wesen, die nicht Drachen, Elfen oder Hobbits sind, ganz schnell ad absurdum geführt.«

   Till machte eine wohlüberlegte kurze Kunstpause, ehe er fortfuhr: »Und das Klima retten wir dann morgen. Gute Nacht. Kommen Sie gut nach Hause.«

   Gelächter gab es immer noch nicht, aber der Applaus der verbliebenen sechsundneunzig Zuschauer*innen, Zuschauenden oder was auch immer war deutlich vernehmbar. Wahrscheinlich saßen wie immer viele Deutschlehrer und ihre weiblichen Pendants im Publikum.

 

*

 

Zu diesen sechsundneunzig gehörten auch Kripobeamtin Anke Hellmich und Staatsanwalt Cem Arat. Cem sah auf seine Armbanduhr und schlug Anke noch einen Absacker nebenan im Bistro vor. 

   Er stellte sich in die Garderobenschlange und wartete, bis ihm eine ältere, freundlich lächelnde Dame mit ein paar netten Worten beide Jacken übergab. Sie erkannte ihn nicht. Er jedoch wusste, dass er sie vor einem guten Jahr als Zeugin in einem Mordprozess vernommen hatte. Cem lächelte freundlich zurück und quittierte die Bemerkung der Garderobenfrau mit einem Scherz. 

   Ein paar Häuser weiter ließen sich Anke und Cem an einem ruhigen Tisch in einer Nische nieder. Es war nicht mehr allzu viel los in der kleinen Gaststätte. 

  »Wie hat dir Till Schleier gefallen?«, fragte Cem.

   »Eigentlich ganz gut. Nur die letzte Nummer fand ich ziemlich pathetisch, wenn ich auch seiner Meinung bin, was das Gendern angeht«, sagte Anke. »Mich nerven all die Sternchen und Wortpausen bei Polizist*innen zum Beispiel. Ich bin so altmodisch, mich auch angesprochen zu fühlen, wenn von Polizisten die Rede ist. Aber die jüngeren Kolleginnen sehen das anders.«

   »Hey, was heißt hier jüngere Kolleginnen? Du bist gerade mal vierzig. Und was die Wokeness angeht, hast du gut reden. Du gehörst als weiße, deutschstämmige, Cis-Frau ohne Behinderung schließlich keiner Minderheit an, aber du kannst mir glauben, ich bin schon so oft als Kanake oder Kümmeltürke bezeichnet worden, dass ich durchaus Verständnis habe, wenn einige Leute langsam die Geduld verlieren.«

   Anke lächelte Cem an und sagte: »Das kann ich nachvollziehen. Und dabei gehörst du als Staatsanwalt ja nun wirklich zu den ziemlich Etablierten in dieser Gesellschaft.«

   Der Kellner stellte ohne weitere Fragen die Getränke, ein Bier und einen Caipirinha, auf den Tisch, und zwar vor die jeweils falsche Person. Anke griff nach dem Bier und schob Cem den Cocktail hin.

   »Cheers«, sagte sie. »Schön, dass es endlich mal wieder mit einem gemeinsamen Abend geklappt hat.«

   Cem nahm seinen aus einer Makkaroni bestehenden Strohhalmersatz in den Mund und trank einen kräftigen Schluck. Er brauchte Mut für das folgende Gespräch. »Du weißt aber schon, das hat nicht an mir gelegen.«

   Anke antworte unbehaglich: »Manchmal passt es halt einfach nicht. Wenn wir mitten in einer Ermittlung stecken, dann kann ich für die Abende nichts planen.«

   »Ja, manchmal passt es einfach nicht«, bestätigte Cem, meinte das aber anders. »Das habe ich mittlerweile eingesehen. Du weißt, ich habe wirklich versucht, aus unserer Freundschaft mehr zu machen. Ich mag dich sehr, Anke. Und ich habe, um es endlich mal offen auszusprechen, auf eine gemeinsame Zukunft mit dir gehofft. Aber von deiner Seite ist da überhaupt nichts gekommen. Dabei kennen wir uns jetzt schon ein paar Jahre. 

   Ich habe angenommen, es würde reichen, wenn ich als guter Freund so lange Geduld beweise, bis du genug Vertrauen zu mir entwickelt hast, um diesen Mist, der dir in Koblenz passiert ist, endlich zu vergessen. Nicht alle Männer sind wie dein damaliger Vorgesetzter. Aber das scheint nicht zu funktionieren. Du suchst keinen Partner, sondern nur einen Kumpel. Das akzeptiere ich jetzt. Ich möchte dich auf keinen Fall als Freundin verlieren, aber ich sehne mich nach einer Partnerschaft, vielleicht sogar nach einer Familie.«

   Anke schossen Tränen in die Augen. Sie versuchte sie wegzublinzeln, aber eine kullerte dann doch ihre Wange hinunter. Cem griff mitleidig über den Tisch nach ihrer Hand. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet.

   Anke sah ihre Felle davonschwimmen. Wenn Cem erst eine Partnerin hätte, dann wäre sie bei ihm genauso abgemeldet wie mittlerweile bei Axel, seit der mit Luzie zusammenlebte. Axel war ihr fester beruflicher Partner im KK 11, dem Kommissariat, das sich mit der Aufklärung von Gewaltverbrechen beschäftigte. 

   Axel war und blieb zwar der eine ihrer beiden allerbesten Freunde - der andere saß ihr gegenüber - aber der aufreibende Job und Luzie, seine große Liebe, ließen ihm kaum noch Zeit dafür, seine Freundschaft mit Anke zu pflegen. Früher hatten sie es sich nach Feierabend mit vom Lieferdienst gebrachtem chinesischen Essen auf der Couch gemütlich gemacht und Serien geschaut, eine Folge nach der anderen, manchmal sogar ein ganzes Wochenende lang. Nach Luzies Auftauchen in Axels Leben hatten sie es mit Filmabenden zu dritt probiert, aber das hatte nicht funktioniert. 

   Dann hatte sie Cem besser kennengelernt. Am Anfang zog sie sogar eine engere Beziehung in Betracht, aber immer dann, wenn es ernster zu werden drohte, konnte sie die Erinnerung an ihren Koblenzer Chef nicht abschütteln, der ihr Vertrauen missbraucht hatte und wegen dem - und, wenn man fair blieb, wegen der räumlichen Nähe zu ihrer dominanten Mutter - sie sich um den Job in Düsseldorf beworben hatte. 

   Sie hatte mit Cem über ihr Problem gesprochen und er war die Geduld in Person gewesen, aber das schien ja nun vorbei zu sein.

   Es sollte für Anke noch schlimmer kommen. Nachdem Cem jetzt den ersten Schritt getan hatte, berichtete er, am Anfang stockend, dann aber immer flüssiger, von einer neuen jungen Kollegin namens Jenny Lichtenberg, die offenbar gerade dabei war, seinem Charme zu erliegen. 

   »Wir haben uns zweimal getroffen. Deshalb erzähle ich es dir jetzt. Ich weiß, dass keiner von uns Ansprüche auf den anderen hat, aber ich will gerade dich nicht hintergehen. Bisher läuft nichts zwischen uns, aber das könnte sich ändern. Ich mag sie gern und bin immer noch total überrascht, dass sie einen mehr als zehn Jahre älteren, übergewichtigen Mann, dem langsam aber sicher die Haare ausgehen, datet.«

   »Ich wünsche dir mit ihr mehr Glück als mit mir«, sagte Anke mit gepresster Stimme. »Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen, und hoffe, wir bleiben trotzdem Freunde.«

   »Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Cem mit deutlich mehr Zuversicht, als Anke in diesem Moment verspürte. 

 

*

 

Till Schleier öffnete mit seiner Fernbedienung das Garagentor und fuhr seinen BMW XM vorsichtig hinein. Die Garage bot zwar eigentlich ausreichend Platz für den nicht gerade kleinen SUV, aber Tills Frau Leni benutzte sie mehr und mehr als Abstellkammer. Er würde gleich mal mit ihr Tacheles reden. So lief das nicht. Nur weil sie den Raum immer weiter zumüllte, hätte er demnächst bestimmt die erste Schramme an seinem fast noch neuen Wagen. 

   Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Mit der Fernbedienung schloss er von außen das Garagentor und lief über die Einfahrt zum Haus. Der Bewegungsmelder ging an und beleuchtete den Eingang. Till starrte überrascht auf die Haustür.

   Jemand hatte wohl eine Dose roter Farbe über die Türfront gekippt und mit einer Reißzwecke ein Blatt Papier daran befestigt. Auch der Bogen hatte ein wenig Farbe abbekommen. Trotzdem konnte Till ohne Probleme den Text darauf lesen:

 

Ich tauchte manchmal die Finger hinein 

Und manchmal ist es geschehen,

Dass ich die Haustürpfosten bestrich

Mit dem Blut im Vorübergehen.

 

Und jedes Mal, wenn ich ein Haus

Bezeichnet in solcher Weise,

Ein Sterbeglöckchen erscholl fernher,

Wehmütig wimmernd und leise. 

 

Till runzelte die Stirn, bemühte sich, beim Aufschließen nicht mit der immer noch feuchten Farbe in Berührung zu kommen, und öffnete die Tür zu seinem Haus in einer der ruhigen Wohnstraßen in der Nähe des Benrather Schlosses. 

   »Leni!«, brüllte er, obwohl es schon auf Mitternacht zuging und er sich keineswegs sicher war, dass seine Frau noch wach war. Wenn nicht, würde sie es sehr bald wieder sein. Wach schon, nüchtern aber wohl kaum. Wahrscheinlich hatte sie vom Anschlag auf die Haustür überhaupt nichts mitbekommen, falls der Vandale erst tätig geworden war, nachdem sie die zweite Flasche Wein dieses Abends in Angriff genommen hatte. 

    »Leni, verdammt noch mal, bist du taub?« Sie schlief offenbar den tiefen Schlaf der Gerechten oder der Betrunkenen. Till vermutete Letzteres. Er hängte seine Jacke an die Garderobe und lief, da das ganze Erdgeschoss dunkel war, die Treppe hoch. Ohne sich mit Höflichkeitsgesten wie dem Anklopfen aufzuhalten, riss er die Schlafzimmertür seiner Frau auf und schaltete die Deckenlampe an. 

   Leni lag im Bett und schnarchte melodiös, was allerdings nicht der Hauptgrund für die getrennten Schlafzimmer des Ehepaares war. Sie hatten Platz genug in ihrem ziemlich großen Haus und gingen sich mittlerweile auch tagsüber ganz gern so weit wie möglich aus dem Weg. 

   Er brüllte wütend noch einmal ihren Namen und rüttelte an ihrer Schulter. Sie schreckte hoch und blinzelte in das helle Licht.

   »Bist du taub oder betrunken?«, fragte er wenig liebevoll.

   »Was willst du von mir?«, erwiderte sie verschlafen.

   »Ich will, dass du dich nicht jeden Abend zudröhnst, damit du wenigstens noch merkst, wenn jemand unser Haus beschädigt. Wahrscheinlich könnte es jemand anzünden, ohne dass du das mitbekommst.«

   »Was ist passiert?«, fragte sie, schon fast wieder nüchtern.

   »Jemand hat einen Eimer Farbe über die Haustür gekippt und merkwürdige Verse angepinnt.«

   Leni stand auf, schwankte leicht und hielt sich an einer Lampe fest, die dadurch in gefährliche Schwingungen geriet.

   »Ach leg dich wieder hin und schlaf deinen Rausch aus. Du kannst mir sowieso nicht helfen.«

   Diese unfreundliche Bemerkung weckte Leni Schleiers Ehrgeiz. Sie sammelte sich und ging vorsichtig aus dem Raum und mit der Hand am Geländer langsam die Treppe hinunter. Till folgte ihr. Leni griff an der Garderobe nach ihrer Winterjacke, bevor sie die Haustüre öffnete. Sie sah sich die Bescherung an und las das Gedicht.

   »Rilke«, stellte sie fest.

   »Bist du sicher?«, fragte Till. »Aber eigentlich ist es völlig egal, wer diesen Blödsinn geschrieben hat. Mich interessiert viel mehr, was die ganze Aktion soll? Hast du wirklich nicht gehört, wie hier jemand auf dem Grundstück herumgefuhrwerkt hat?«

   Nein, Leni hatte nichts von dieser frevlerischen Tat mitbekommen, was aber nur teilweise am Alkoholgehalt ihres Blutes lag. Schließlich hatte der Übeltäter kein Kettensägenmassaker verübt, sondern nur schweigend mit Farbe herumgekleckert und eine Heftzwecke in eine Holztüre gedrückt.

   Die Kirchturmuhr ganz in der Nähe schlug Mitternacht.

 

 

 

Kapitel 2

Montag, 13. November

 

Luzie Holm öffnete die Tür der Kanzlei Hill & Holm. Die Sekretärin, deren Job das eigentlich gewesen wäre, feierte an diesem Tag Überstunden ab. Im Hausflur stand mit erwartungsvollem Lächeln und einer Tortentransportbox in der Hand Jule Heine und sagte gut gelaunt: »Da bin ich endlich.«

   Luzie nahm Jule in den Arm und begrüßte sie: »Wir freuen uns auf dich. Auf gute Zusammenarbeit. Christoph muss auch jeden Moment kommen.«

  »Ich habe Apfelkuchen mitgebracht zum Einstand, sogar selbst gebacken«, sagte Jule und stellte ihre Tortenbox auf ein Sideboard im Flur. 

   »Super. Endlich mal keine schnelle Pizza vom Lieferdienst. Apfel hört sich so richtig gesund an.«

   Jule hielt es nicht für erwähnenswert, dass ihr Backwerk neben den gesunden Früchten auch jede Menge Fett, Zucker und Weizenmehl enthielt. Das würde nur auf die Stimmung drücken, und die sollte am ersten Arbeitstag durch nichts getrübt werden. 

   Jule hatte ihr erstes juristisches Staatsexamen ziemlich bravourös mit der Note voll befriedigend abgeschlossen und bereits die ersten Stationen ihres Referendariats hinter sich gebracht, die Zivilrechtstation bei Gericht, die Strafrechtstation bei der Staatsanwaltschaft, wo Cem sie unter seine Fittiche genommen hatte, und eine sehr, sehr langweilige Verwaltungsstation beim Rechtsamt der Stadt Düsseldorf. Nun sollte sie ein Dreivierteljahr lang bei Luzie Holm und Christoph Hill in der Anwaltsstation die nächsten juristischen Lorbeeren erringen. 

   Jule war die Tochter der Journalistin Anna Heine und Stieftochter Tom Brechts, der früher einmal das 11. Kriminalkommissariat geleitet hatte und in dieser Zeit Christophs Freund geworden war. Zusammen mit Luzie bildete er das Patenpaar von Christophs Sohn Julian. 

   Auch Luzie kannte Anna, Tom und die beiden Töchter seit Jahren und so war es für Jule eine reine Formsache, das begehrte Referendariat in der Kanzlei an der Bäckerstraße zu bekommen. Neun Monate sollte sie jetzt die beiden Anwälte unterstützen, so gut sie das schon konnte. Das war jedenfalls die offizielle Version. Die letzten Wochen würde sie jedoch ganz sicher am heimischen Schreibtisch verbringen, um für die Klausuren des zweiten Staatsexamens zu lernen, das im Anschluss an diese Station bereits am Horizont drohte. Aber noch war die Abschlussprüfung Monate entfernt.

   Der Schlüssel drehte sich im Schloss und Christoph stand in der Tür. »Du bist aber pünktlich«, stellte er zufrieden fest.

  »Das kann man so oder so sehen«, lachte Jule. »Eigentlich habe ich ja dreizehn Tage Verspätung.«

   »Gegen einen vereiterten Blinddarm, der raus muss, ist man machtlos«, antwortete Luzie. »Und jetzt bist du ja da. Komm mit, ich zeige dir mal deinen Schreibtisch und außerdem habe ich schon einen Fall für dich.« 

   Jule strahlte. Genau so hatte sie sich den Einstieg ins Anwaltsleben vorgestellt. Luzie verschwieg ebenso taktvoll wie klug, wie lange sie gegrübelt hatte, mit welchem Fall man der künftigen Kollegin den ersten Tag angenehm, aber nicht unüberwindbar kompliziert gestalten könnte.

   »Ach, ich freue mich total auf die Zeit mit euch«, sagte Jule mit jugendlichem Optimismus. »Hoffentlich haben wir so richtig spannende Fälle. Früher, als Tom noch das KK 11 geleitet hat, hat er die ganze Familie als Watsons rekrutiert. Seit er den Bürojob in Neuss hat, liegen unsere kriminalistischen Fähigkeiten brach. Es ist die reinste Verschwendung. Vielleicht bekommen wir ja einen Mordverdächtigen als Mandanten, den wir reinwaschen können, indem wir den wahren Täter überführen.«

   »Das schaffen wir bestimmt«, lachte Luzie. »Schlimmstenfalls muss uns Axel ein paar Verdächtige zur Verfügung stellen, die im KK 11 so in den Ecken rumstehen.«

 

*

 

Deutlich weniger harmonisch als in der Kanzlei Hill & Holm ging es an diesem Morgen im Hause Schleier zu. Till war früh aufgestanden. Nach einer Tasse Kaffee führte ihn sein erster Weg vor die Haustür, um sich die Schmiererei bei Tageslicht genauer anzuschauen.

   Leni schlief natürlich noch und das wahrscheinlich bis in den späten Vormittag hinein. Nicht zum ersten Mal stellte Till fest, dass seiner Frau ganz offenbar eine befriedigende Tätigkeit fehlte, die Struktur in ihr Leben bringen und sie von den Verlockungen des Alkohols ablenken würde. 

   Dabei vergaß er ganz, dass er es gewesen war, der vor ein paar Jahren dafür gesorgt hatte, dass Leni ihren Beruf aufgegeben hatte. Sie war Lehrerin an einer Berufsschule gewesen und hatte sich dort im Kampf mit den Heranwachsenden immer mehr aufgerieben. Es war ihr einfach nicht gegeben, eine natürliche Autorität auszustrahlen und so mit relativ geringem Reibungsaufwand ihren Stoff zu vermitteln. 

   Stattdessen ging sie morgens schon mit einem schlechten Gefühl in die Schule, das sich wie eine selbst erfüllende Prophezeiung bis mittags so verstärkte, dass sie nachmittags zuhause ihren Frust dann ziemlich ungerecht an ihrem Mann ausließ. 

   Irgendwann hatte Till die Reißleine gezogen. Seine Karriere gestaltete sich erfolgreich und so war es kein finanzielles Problem, für Leni eine Beurlaubung vom Schuldienst zu erreichen. Erst handelte es sich um ein Sabbatjahr, mittlerweile hatte Leni aber endgültig gekündigt. Anfangs hatte sie ihre persönliche Freiheit genossen und sich auf die Aufgabe gestürzt, Haus und Garten in einen optimalen Zustand zu bringen und ihren - wie er selbst fand - leidgeprüften Gatten zu verwöhnen. 

   Schon vor einiger Zeit war allerdings der Genuss in Verdruss umgeschlagen. Anstatt sich aber zu diesem Zeitpunkt wieder in den Schuldienst einzugliedern oder sich eine andere Aufgabe zu suchen, hatte sie zur bequemeren Lösung gegriffen, sich das Leben schönzutrinken. Till hatte sich das eine Zeit lang angeschaut und dann nach endlos geführten Diskussionen, die in immer heftigere Streitereien mündeten, irgendwann resigniert. 

   Er lebte sein Leben, dachte aber in letzter Zeit immer häufiger über eine Trennung von Leni nach, zumal das Ehepaar keine Kinder hatte, die eine Scheidung kompliziert hätten. 

  Er fragte sich verwundert, wie sie sich nur so hatte verändern können. Dass er selbst und sein wachsender Egoismus neben den renitenten Berufsschülern der Hauptgrund für diesen Wandel gewesen war, kam ihm dabei überhaupt nicht in den Sinn. Für ihn lief es gut, nur Leni erwies sich immer mehr als Klotz am Bein. Die Situation am Vorabend war typisch. Da gab es mal eine, wenn auch überschaubare häusliche Krise, aber sie tat nichts, um die in den Griff zu bekommen. Wahrscheinlich konnte er von Glück reden, dass sie in ihrem Suff nicht noch die Treppe heruntergefallen war, nachdem er sie mitten in der Nacht geweckt hatte.

   Er betrachtete nachdenklich die blutrot verschmierte Tür und den Text. Das war eindeutig eine Drohung. Da wollte ihn zumindest jemand verunsichern. Die rote Farbe sollte das Blut darstellen, mit dem ein Bösewicht seine Tür markiert hatte, um dem Sensenmann den Weg zu weisen. Welcher Idiot konnte das getan haben? An Angriffe in den sozialen Netzwerken hatte sich Till Schleier längst gewöhnt. Er konnte es nämlich nicht lassen, sämtliche Kommentare, die er über sich in Instagram, Facebook und TikTok fand, zu lesen. Aber das hier hatte schon eine andere Tragweite als ein hasserfüllter Post. Jemand wusste immerhin, wo er wohnte. 

   Die Kollegen, die behaupteten, sie würden diese mehr oder weniger fundierten Bemerkungen im Netz überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, logen doch alle schamlos. Schließlich wollte ja auch niemand Lob oder positive Worte verpassen. Als Kabarettist suhlte man sich außerdem ganz gern gelegentlich in negativen Kommentaren, weil sie immerhin bestätigten, dass man jemandem erfolgreich auf den Schlips getreten war - und das war ja schließlich der Job eines Kabarettisten.  Die besten seiner Zunft schafften es sogar, in einem einzigen Programm allen Parteien gleichermaßen auf die Nerven zu gehen. 

   Till Schleier griff nach seinem Handy und fragte Google nach der ersten Zeile der Provokation: »Ich tauchte manchmal die Finger hinein …«. Sofort erschien die gewünschte Antwort in Form einer Überschrift: »Heine, Heinrich. Deutschland. Ein Wintermärchen.« Er klickte diesen Artikel an und tatsächlich handelte es sich um Verse aus dem Werk des Düsseldorfer Dichters. Von wegen Rilke, dachte er.

   Zu seiner Überraschung hörte er seine Frau, die trotz der relativ frühen Uhrzeit neben ihn trat. Auch sie warf einen erneuten Blick auf das Gedicht.

   »Morgen«, sagte sie knapp. »Ich hatte schon gehofft, ich hätte diesen ganzen Mist nur geträumt.«

   »Nein, hast du nicht. Schön, dass du ausnahmsweise mal so früh aus dem Bett gekommen bist. Schnapp dir bitte so bald wie möglich Putzzeug und entferne diese Schmiererei. Das muss schließlich nicht jeder sehen. Ich habe noch mit meinem neuen Programm zu tun. Die Schneewittchen-Nummer muss bis nächste Woche überarbeitet werden. Die Resonanz gestern war nicht gerade berauschend.«

   »Willst du das nicht der Polizei zeigen? Das ist doch eine klare Drohung. Da behauptet jemand, er hätte unsere Haustür mit Blut markiert, damit du umgebracht wirst. Das kann man doch nicht einfach wegwischen.«

   »Doch, das kann man. Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich um wasserlösliche Farbe. Und wer sagt überhaupt, dass ich das Opfer bin? Vielleicht bist ja du gemeint.«

   »Das könnte dir so passen«, erwiderte Leni mit leicht erhobener Stimme. 

  »Schrei doch bitte nicht schon wieder so. Das ist mir peinlich. Ich lebe hier gerne und möchte noch länger mit den Nachbarn auskommen.«

   »Du kannst deinen Dreck alleine wegwischen. Ich bin nicht deine Putzfrau.«

   »Was bist du denn? Oder anders formuliert: Welche Funktion übst du denn überhaupt noch in diesem Hause aus?«

   »Ich lebe hier.«

   »Bedauerlicherweise. Übrigens ist das Gedicht nicht von Rilke, sondern von Heine«, fügte er mit leisem Triumph  hinzu.

 

*

 

Die morgendliche Konferenz im KK 11 verlief ruhig und relativ ereignislos. Es gab derzeit nicht den einen großen Fall, der das gesamte Kommissariat in Atem hielt. Vielmehr wurden mehrere schon etwas ältere Delikte gerade abgewickelt. Sankt Bürokratius forderte Tribut in Form von Aktenführung und Protokollen. Nachdem diese nicht sonderlich beliebten Aufgaben verteilt waren, wandte sich der Chef, Otto Tjombe, noch einmal an seine Mitarbeiter: »Dann habe ich hier noch eine Aufforderung oder, netter formuliert, eine Einladung zur Verabschiedung des Polizeipräsidenten und der Begrüßung der neuen Präsidentin. Der Personalrat bittet um zahlreiches Erscheinen und um Vorschläge zur Gestaltung des Empfangs. Der Innenminister wird erwartet. Dazu gibt es Sekt und Schnittchen.

    Jede Abteilung ist aufgerufen, Ideen für das Rahmenprogramm einzubringen. Hiermit frage ich euch also, ob jemand einen Beitrag leisten möchte.« Otto sah sich in der Runde um und stellte nach einer kurzen Pause fest: »Ich sehe, das ist nicht der Fall. Michelle, möchtest du vielleicht ein Gedicht schreiben?«

   Die für ihre schlechten Gedichte bekannte Oberkommissarin lächelte erhaben. Sie war kein bisschen beleidigt, schließlich wusste sie, wie ihre Umwelt über ihre poetischen Einlagen dachte. Das hinderte sie aber nicht daran, fröhlich weiter im Stil der Bauernregeln zu reimen, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab: »Das mache ich natürlich sehr gerne: Verliert der Minister im November die Hose, dann war das Gummi im Oktober schon lose«, sagte sie fröhlich.

   »Vielleicht besser doch nicht«, grinste Axel König, der es von allen Anwesenden bisher am längsten im KK 11 ausgehalten hatte, obwohl er seinen vierzigsten Geburtstag immer noch vor sich hatte. 

   Otto Tjombe war bereits über fünfzig, aber erst vor ein paar Jahren von Krefeld nach Düsseldorf versetzt worden, um die Leitung des KK 11 von seinem Vorgänger Tom Brecht zu übernehmen. 

   Sein Stellvertreter Martin Anger, der ihm von Krefeld nach Düsseldorf gefolgt war, war mittlerweile der Lebensgefährte der erfolglosen Dichterin Michelle Blum, terrorisierte im Moment jedoch nicht die Kollegen, sondern im Rahmen einer vierwöchigen Kur Ärzte und Pfleger einer Klinik im Allgäu. Alle hofften, dass er durch diesen Aufenthalt seine labile Gesundheit und, damit verbunden, seine schwankende Laune wieder etwas besser in den Griff bekommen würde. Martin kämpfte immer noch gegen die Spätfolgen einer Malariainfektion, die er sich vor langer Zeit in Afrika zugezogen hatte. Im vergangenen Jahr waren die Schübe immer häufiger über ihn hereingebrochen und hatten seinen Arzt dazu veranlasst, diese Rehamaßnahme vorzuschlagen. 

   Martin fiel noch für ein paar Wochen aus. Von ihm war also kein Beitrag für die Verabschiedung des scheidenden Vorgesetzten zu erwarten. Wer Martin kannte, wusste allerdings, dass auch seine Anwesenheit in Düsseldorf nichts daran geändert hätte. Michelle fehlte in diesen Novembertagen nicht nur ihr privater, sondern auch ihr beruflicher Partner. 

   Das andere Duo, das sogenannte A-Team, wurde von Axel König und seiner Kollegin Anke Hellmich gebildet. Anke machte an diesem Morgen einen ausgesprochen unglücklichen Eindruck. Michelle hatte sofort bemerkt, dass Anke versucht hatte, durch den Einsatz von viel zu viel Make-up die Rötungen ihres Gesichtes, besonders rund um die Augen, zu verdecken. Das war ungewöhnlich, weil Anke sich normalerweise nicht oder, wenn überhaupt, dann nur sehr dezent schminkte. Es schien ihr nicht gut zu gehen. 

   Sie würde versuchen, die Kollegin in der Mittagspause abzupassen und sie so vorsichtig wie möglich nach ihrem so deutlich sichtbaren Kummer zu fragen. Sie schien ein offenes Ohr nötig zu haben. Und wegen Martins Abwesenheit verfügte Michelle über freie Trostkapazitäten.

   Bestärkt in ihrem Vorsatz fühlte sie sich, als sie beim Herausgehen aus Ottos Büro hörte, wie Anke ihren Kumpel Axel fragte, wie es denn mit einem gemeinsamen Mittagessen aussehe. Axel sagte bedauernd ab, weil er seiner Freundin Luzie versprochen hatte, zusammen mit ihr, Christoph und der neuen Referendarin Jule essen zu gehen. Axel und Jule kannten sich schon lange und Axel freute sich, dass die Kleine, wie er sie immer noch nannte, mit ihrem Referendariat bei Luzie seiner Meinung nach das große Los gezogen hatte.

   Also vertröstete Axel Anke auf den kommenden Tag. Anke fasste diese Absage als Bestätigung dafür auf, dass ihr ehemals bester Freund, seit er mit Luzie zusammen war, seine Prioritäten eindeutig in deren Richtung verschoben hatte. Mit Cem würde jetzt genau das Gleiche passieren. Das Leben war schon mal schöner gewesen.

   »Hey, du«, stupste Michelle Anke an, »ich habe gerade gehört, dass du für heute Mittag einen Essenspartner suchst. Darf ich mich anbieten? Seit Martin im Allgäu ist, fühle ich mich so allein. Du tätest mir einen großen Gefallen, wenn ich heute nicht schon wieder einsam in der Kantine meine Suppe löffeln müsste.«

   »Wenn du mir versprichst, dabei nicht Suppe auf Puppe zu reimen, dann gerne«, lächelte Anke, schon wieder halb getröstet.

   »Kein Problem. Da bleibt mir immer noch Kuppe oder Gruppe. Ist mir schnuppe. Um halb eins?«

   »Anke streckte den Daumen nach oben und betrat kurz danach ihr kleines Büro, um sich die Zeit bis zur Mittagspause mit einem Abschlussbericht für die Staatsanwaltschaft zu vertreiben. Wahrscheinlich würde er Cem in die Hände fallen. Also würde sie besser keine Tränen darauf tropfen lassen. 

 

*

 

Till Schleiers Laune hatte sich im Laufe des Vormittags von leicht verärgert in Richtung explosiv verschlechtert. Er hatte an seinem Schreibtisch mit dem Schneewittchen-Text gerungen, wobei der Text den Sieg davongetragen hatte. Warum nur fand er diesmal nicht zu seiner üblichen Leichtigkeit? Warum flogen ihm die Pointen nicht zu? Seine Aussage traf doch schließlich genau den Kern des Problems, fand er. 

   Wenn alle Menschen nur Gutes tun und denken würden, brauchte niemand seine Mitmenschen durch gendern und diese, wie Till fand, völlig übertriebene Wokeness daran zu erinnern, dass die Welt noch über erhebliches Verbesserungspotenzial verfügte. 

   Wahrscheinlich lag es aber genau an diesem Gedanken. Man würde nie den Zustand erreichen, in dem jeder nur Gutes wollte und tat. Was gut war, hing schließlich auch vom Standpunkt des Betrachters ab. Wahrscheinlich wäre es überdies unerträglich, in einer solchen Welt zu leben. Zumindest für ihn. Die Menschen in der Ukraine sahen das möglicherweise etwas anders. 

   Vielleicht sollte er sich ein anderes Thema suchen, eins das nicht ganz so mit Ideologie überfrachtet war. Aber schließlich war er politischer Kabarettist, und nicht einer von diesen banalen Comedians, bei deren Vorstellungen sich ein Publikum, das er beileibe nicht haben wollte, nach billigen Witzen vor Lachen auf die Schenkel klatschte. Nein, das war so gar nicht sein Stil. 

   Wahrscheinlich hatte er ganz einfach im Moment eine kleine Schaffenskrise. So etwas erwischte jeden kreativen Kopf irgendwann einmal. In solch einer Phase sollte man besser nichts erzwingen. Till beschloss eine Pause einzulegen. Er entsperrte sein Handy und schickte seiner Freundin Rebekka eine Nachricht mit dem zwischen beiden vereinbarten Code, der ein baldiges Treffen vorschlug.

   Till hatte den Verdacht, dass Leni, wann immer er sein Handy herumliegen ließ, darin herumstöberte. Deshalb hatte er Rebekka unter dem Namen Tom Müller gespeichert. Till hatte sich in den letzten Jahren ein zuverlässiges Repertoire an Verschleierungstaktiken zugelegt. Rebekka war nicht die erste Gespielin, die er unter einem Männernamen führte.

   Während er auf eine Antwort von Tom Müller wartete, fragte er sich, ob derartige Vorsichtsmaßnahmen eigentlich noch erforderlich waren. Seine Zeit mit Leni neigte sich doch wohl dem Ende zu. Sie hatten sich an der Uni kennengelernt und relativ früh geheiratet. Die silberne Hochzeit wollte er eigentlich nicht mehr mit ihr feiern. Das hieße jedoch, dass er relativ bald den Absprung schaffen musste.

   Sein Smartphone gab einen kurzen Ton von sich. Tom war gerne bereit, sich am Nachmittag gegen drei Uhr in seinem Büro mit ihm zu treffen. Till lächelte zufrieden. In Rebekkas »Büro« würde kein Schreibtisch, sondern ein bequemes Bett stehen. Er bestätigte den Termin durch ein Emoji mit hochgerecktem Daumen. Dann schaltete er seinen Computer aus. Für heute war Schluss. Es gab Tage, an denen nichts ging, und heute schien so einer zu sein.

   Seine Gedanken wanderten noch einmal zu den an seine Türe gehefteten Versen von Heinrich Heine. Er fragte sich erneut, wer das getan haben könnte. Und vor allem warum. Man wollte ihn offenbar verunsichern. Einen Moment lang überlegte er, ob vielleicht Leni dahinterstecken könnte. Sie hätte natürlich die beste Gelegenheit dazu gehabt. Aber was hätte sie damit erreichen wollen?

   Er wusste es nicht. Allerdings hatte er schon längst nicht mehr den Eindruck, das Gefühlsleben seiner Ehefrau zu verstehen. Sie interessierte ihn einfach nicht mehr.

   Er ging in die Küche, nahm sich dort einen Apfel, biss hinein und kaute noch, als er die Haustür öffnete, um nachzuschauen, ob nach Lenis Reinigungsaktion noch irgendwelche Spuren an der Tür zurückgeblieben waren. Er traute seinen Augen kaum. Leni hatte sich einen Dreck um seine Anweisung geschert, die Tür zu reinigen. Alles sah noch beinahe genauso aus wie am Abend zuvor. Nur die blutrote Farbe war mittlerweile trocken.

   Tills Stimmung, die gerade durch die Verabredung mit Rebekka ein kurzes Zwischenhoch erreicht hatte, sank wieder auf den Nullpunkt. Er bemerkte nicht einmal den freundlichen Gruß seines Nachbarn, der gerade dabei war, die Hecke zwischen den beiden Grundstücken ein wenig zurechtzustutzen. 

   Till brüllte nach Leni und als die nach einigen Minuten endlich an der Haustür erschien, kippte er einen Kübel von Anschuldigungen und Beleidigungen über ihrem Haupt aus. Auch Leni hatte eine kräftige Stimme, mit der sie ihrerseits nun Till mitteilte, was sie ihm schon immer hatte sagen wollen, nämlich dass er ein unsensibler, heuchlerischer Scheißkerl sei, ein Westentaschendiktator ohne Format, der nur auf der Bühne den Menschenfreund spielte, zu Hause aber das genaue Gegenteil sei. Sie wundere sich jedenfalls nicht darüber, dass es mit seiner Karriere langsam aber sicher bergab gehe. Schließlich sei das Publikum nicht dumm. Und sie selbst hasse ihn wirklich mittlerweile von ganzem Herzen.

   »Warum packst du dann nicht deinen Kram und haust endlich ab?«, schrie Till.

   »Warum ziehst du nicht aus?«, fragte Leni laut und schrill. »Tom Müller freut sich doch bestimmt auf dich.«

   Tills Wut steigerte sich noch um ein paar Einheiten auf seiner nach oben offenen Empörungsskala. Der Nachbar beschloss, die Hecke Hecke sein zu lassen und sich lieber den Pflanzen im hinteren Teil seines weitläufigen Grundstücks zu widmen.

 

*

 

Axel, der inzwischen bei fast jedem Wetter lieber mit dem Fahrrad als mit seinem Auto unterwegs war, hatte die Strecke zwischen Polizeipräsidium und der Bäckerstraße in Rekordzeit absolviert. Er hatte dennoch vorsichtshalber mit Otto besprochen, dass er an diesem Tag seine Mittagspause vermutlich etwas überziehen würde. Otto hatte das ohne Murren abgesegnet. Axel war immer der Erste, der bereit war, jede Menge Überstunden zu machen, wenn ein wichtiger Fall das erforderte. Im Moment war wirklich nicht viel zu tun. Also gab es überhaupt keinen Grund, ihn an dem seltenen privaten Vergnügen eines Essens mit seiner Liebsten und deren Kollegen zu hindern. 

   Als er zwei Minuten nach der vereinbarten Zeit vor dem Haus bremste, in dem sich die Kanzlei Hill & Holm befand, standen Luzie, Jule und Christoph schon auf dem Bürgersteig. Axel schloss sein Fahrrad an einen Laternenpfahl und seine Freundin und Jule in die Arme. Christoph bekam einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Die vier gingen ein paar Straßen weiter zu einem Italiener, der für seine gute Küche bekannt war.

   Jule freute sich sichtlich, Axel endlich wieder mal zu sehen. Sie kannte ihn aus der Zeit, als sie noch mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammen auf der Karl-Anton-Straße gewohnt und sich eine Beziehung zwischen Axels damaligem Chef Tom Brecht und Jules Mutter Anna angebahnt hatte. Nach Axels Umarmung beanspruchte sie ihn auf dem Weg zum Restaurant erst einmal für sich allein. Christoph und Luzie folgten den beiden und hörten Satzfetzen und Wortbrocken, die sich auf alte Zeiten und gemeinsame Freunde und Bekannte bezogen.

   Axel war natürlich daran interessiert, wie es Tom Brecht so in Neuss erging. Zu seinem Leidwesen köchelte der Kontakt zwischen beiden seit längerem eher auf Sparflamme. Tom hatte sich in Neuss völlig neuen Herausforderungen gegenübergesehen, die ihn in der ersten Zeit ordentlich in Anspruch genommen hatten. Axel hatte kurz nach Toms Beförderung zum Leiter der Kripo Neuss Luzie kennengelernt und war seitdem in seiner knappen Freizeit doch ziemlich auf sie fixiert, wie Anke sicher gern bestätigt hätte. Also hatte man sich doch mehr aus den Augen verloren, als es Tom und Axel eigentlich lieb gewesen wäre. 

   Mittlerweile war Tom in Neuss beruflich wirklich gut angekommen, was auch für seinen damaligen Stellvertreter Jörg Möller galt, der ihm nach Neuss gefolgt war. Im Gegensatz zu Tom legte Jörg mehr Wert auf Familie als auf Karriere. Er war mittlerweile Vater von drei Kindern und hatte seine Stundenzahl deutlich reduziert zugunsten seiner Frau Bine, die Ärztin in einem Düsseldorfer Krankenhaus war. 

   Jules Schwester Marie war mittlerweile mit ihrem langjährigen Freund Benedikt verheiratet. Die Frage, ob sie denn inzwischen auch Tante sei, verneinte Jule mit nicht zu überhörendem Bedauern. Schwester und Schwager seien viel zu sehr mit ihren Karrieren befasst, um an so etwas wie Kinder zu denken. Als Jule auch noch von gemeinsamen Nachbarn und Freunden berichtet hatte, war man längst in der Trattoria angekommen. 

   Nach der Bestellung musste im Gegenzug Axel berichten, was sich seit Toms Weggang im KK 11 so getan habe. Axel erzählte mit sehr liebevollem Unterton, wie schön es doch sei, immer noch mit Anke Hellmich zusammenarbeiten zu können, an die Jule sich noch gut erinnern konnte aus den aufregenden Zeiten, als sie und ihre Schwester Tom gelegentlich dabei helfen durften, Verbrecher dingfest zu machen. Dabei hatte Tom seine familiäre Taskforce aber überwiegend für Recherchen und Gedankenspiele eingesetzt, um sie von gefährlicheren Situationen fernzuhalten. Immer war das jedoch nicht gelungen.

   In die kritischste Lage hatte sich Jule selbst manövriert, als sie nach einem Streit mit Tom einen Flug in die USA gebucht hatte, um ihrem leiblichen Vater einen Besuch abzustatten, ohne jemanden darüber zu informieren. Dabei war sie von einem Psychopathen entführt und in einem Keller gefangen gehalten worden.

   Dieses Erlebnis hatte die lebenslustige Jule an einem kritischen Zeitpunkt auf dem Weg zum Erwachsenwerden so aus der Bahn geworfen, dass sie etwa zwei Jahre lang die Hilfe einer netten Therapeutin gebraucht hatte, um wieder die Alte zu werden und vertrauensvoll auf andere Menschen zugehen zu können. Aber jetzt sei das kein Thema mehr, erzählte sie Axel ganz offen. Sie habe ihre Lehren aus diesem Vorfall gezogen und ließe sich auf Langstreckenflügen nicht mehr von fremden Männern ansprechen. 

   Dann wollte sie wissen, wie es denn um Ankes Liebesleben bestellt sei. Axel wurde schlagartig vorsichtiger mit seinen Äußerungen. Schließlich wusste er nicht, welche Einzelheiten ihres Privatlebens Anke preisgegeben hätte, wenn sie von Jule direkt gefragt worden wäre. So deutete er nur eine relativ enge Freundschaft zu einem Staatsanwalt an, den Jule aber vermutlich nicht kenne.

   »Ach, sag das nicht, Axel«, widersprach Jule mit vollem Mund. »Schließlich war ich vor der öden Verwaltungsstation drei Monate bei der Staatsanwaltschaft. Es kann also durchaus sein, dass ich den Typen kenne. Wie heißt er denn?«

   »Cem«, antwortete Axel und hoffte, dass damit das Thema erledigt sei. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, über Ankes mögliches oder unmögliches Liebesleben zu reden. Dass ihr Verhältnis zu Cem nicht völlig stressfrei ablief, war ihm klar. Die Beziehung schien Haken und Ösen zu haben, ganz anders als die zwischen Luzie und ihm selbst.

   Aber Jule ließ ihm keine Ruhe. »Sag jetzt nicht, du meinst Cem Arat? Das war mein direkter Ausbilder. Das ist einer der nettesten Typen überhaupt. Wie so jemand Staatsanwalt werden konnte, kann ich nicht nachvollziehen.«

   »Genau den meine ich«, gab Axel zu. »Er ist wirklich extrem nett und mittlerweile ein guter Freund von mir.«

   »Merkwürdig, dass ich während der drei Monate weder dich noch Anke bei ihm getroffen habe.«

   »Während der Dienstzeiten haben wir natürlich nur mit ihm zu tun, wenn es um konkrete Fälle geht, die wir gemeinsam bearbeiten. Abends und an den Wochenenden wirst du ja kaum mit ihm zusammen gewesen sein, wenn er nur dein Ausbilder war.«

   »Das ist zwar richtig, aber man führt doch auch schon mal während der Arbeitszeit private Telefongespräche. Und da war von Anke und dir nie die Rede. Ist Anke denn mit Cem zusammen oder sind sie nur gute Freunde?«

   »Keine Ahnung«, sagte Axel und lenkte vom Thema ab, das ihm langsam zu gefährlich wurde. Wer wusste schon, ob Jule und Anke sich nicht demnächst irgendwo trafen und dann seine Indiskretion zur Sprache bringen würden. »Was ist denn eigentlich mit deinem Liebesleben?«

   »Wenn man das Studium und das Referendariat so ernst nimmt wie ich, bleibt leider keine Zeit für irgendwelche Beziehungen«, erklärte Jule mit frommem Augenaufschlag.

   »Warum glaube ich dir das nicht?«, fragte Axel. Jule zuckte mit den Schultern.

   »Seit ich weiß, dass du nicht mehr zu haben bist, hat mein Interesse an Männern deutlich nachgelassen«, behauptete sie und fügte an Christoph gewandt hinzu: »Den ersten Schlag in dieser Hinsicht hat mir natürlich schon deine Hochzeit mit Elisabeth versetzt. Alle gutaussehenden und netten Männer sind vergeben. Und jetzt muss ich mir auch noch Cem aus dem Kopf schlagen. Schließlich will ich Anke nicht ins Gehege kommen, falls da was läuft.«

   »Vielleicht schaust du dich mal in deiner eigenen Altersklasse um«, schlug Christoph gut gelaunt vor.

   »Möchte noch jemand ein Dessert oder einen Kaffee?«, fragte der Kellner.

   »Beides«, strahlte Jule. »Als arme Rechtsreferendarin muss ich nehmen, was mir angeboten wird, und das nicht nur in puncto Mann.«

 

*

 

Bei Weitem nicht so liebevoll zubereitet wie das mit einer Physalis dekorierte Tiramisu, das Jule gerade beherzt in Angriff nahm, war nicht allzu weit entfernt der mit einer Haut überzogene Vanillepudding mit dem üblichen Kantinen-Klacks Sprühsahne, den Michelle nicht zu Unrecht misstrauisch beäugte, bevor sie den ersten Löffel in den Mund schob.

   Anke hatte auf den Nachtisch verzichtet und sich stattdessen einen doppelten Espresso aus dem Automaten gegönnt. Leider erwies sich Michelles Misstrauen bezüglich der Güte des Puddings als durchaus berechtigt. Daher schob sie das nicht mal zur Hälfte gegessene Dessert beiseite und sah Anke prüfend an. »Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus. Falls du einen Blitzableiter brauchst, hier bin ich.«

   Anke war genervt, weil ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. Sie war doch sonst nicht solch eine Heulsuse. Michelle legte tröstend ihre Hand auf Ankes Arm und lächelte sie auffordernd an.

   »Du kannst mir auch nicht helfen«, sagte Anke verzagt.

   »Probier es doch einfach mal«, schlug Michelle vor. »Ob ich dir wirklich helfen kann, weiß ich natürlich nicht. Aber ich bin eine gute Zuhörerin und eins verspreche ich dir: Egal, was du mir erzählst, es bleibt unter uns. Ich würde nicht mal Martin etwas sagen. Es sei denn, du gestehst mir jetzt einen Mord, aber wie ich dich so kenne, hast du harmlosere Probleme.«

   Anke gab auf. Es war einfach zu verlockend, sich die ganze Geschichte mal von der Seele reden zu können. Viel Auswahl an mitfühlenden Gesprächspartnern hatte sie ohnehin nicht. Also warum nicht Michelle? In den Jahren der Zusammenarbeit hatte sich die Kollegin noch nie durch irgendwelche Indiskretionen hervorgetan. 

   Also gab sich Anke einen Ruck und berichtete schnörkellos von der versuchten Vergewaltigung durch ihren Koblenzer Chef, von den auf diesen Vorfall folgenden Vertuschungsbemühungen innerhalb der Behörde und von ihrer auf eigenen Wunsch erfolgten Versetzung nach Düsseldorf.

   Stockend erzählte sie, wie sie zunächst zu sämtlichen Männern auf Abstand gegangen war. Axel hatte sich dann aber als so guter Kumpel erwiesen, dass sie wieder ein Mindestmaß an Vertrauen gefasst hatte. Kurz danach hatte aber Axel Luzie kennengelernt und sie selbst gar nicht so viel später Cem Arat. Während aus Axel und Luzie schnell das Traumpaar geworden war, hatte sich zwischen ihr und Cem eine überwiegend freundschaftliche Beziehung entwickelt. 

   Natürlich hatte sie bemerkt, dass Cem ebenso vorsichtig wie hartnäckig versuchte, diese Freundschaft zu vertiefen. Das hatte sie in eine Zwickmühle gebracht. Cem war ihr zwar alles andere als gleichgültig, aber seit dem Debakel in Koblenz hatte sie panische Angst davor, sich in eine Situation zu bringen, die sie nicht mehr voll und ganz selbst kontrollieren konnte. 

   Sie und Cem hatten sogar lang und breit über das Problem gesprochen. Cem verstand also ihre Beweggründe. Aber jetzt war da eine junge Staatsanwältin aufgetaucht, die Cem ganz andere partnerschaftliche Perspektiven zu bieten schien. Anke war nicht nur dabei, Cem zu verlieren, sondern sie merkte erst jetzt, wie weh ihr das tun würde. 

   Michelle kramte in ihrer Handtasche und hielt Anke dann als erste Soforthilfe ein Päckchen Papiertaschentücher hin. 

   »Hast du nie daran gedacht, dir professionelle Hilfe zu suchen?«, fragte Michelle. »Eigentlich hätten sie dir das schon in Koblenz anbieten müssen.«

   Anke schüttelte den Kopf. »Die waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihren wertvollen Kriminalrat zu schützen und die hysterische Kommissarin ruhigzustellen, die sie mit irgendwelchen Hirngespinsten belästigt hat. Sie haben dankbar mein Versetzungsgesuch unterstützt und ich war so naiv zu glauben, wenn ich da bloß erst mal weg wäre und ein bisschen Abstand gewonnen hätte, würde schon alles von allein wieder gut werden.«

  »Aber du weißt doch schon seit Jahren, dass das nicht funktioniert hat.«

   »Ich habe das Problem verdrängt. Ich wollte einfach nicht mehr darüber nachdenken. Außerdem bekommst du nicht so ohne weiteres einen Therapieplatz. Da wartest du Monate und dann weißt du immer noch nicht, wie du mit diesem Gesprächspartner zurechtkommst. Und so einen seelischen Striptease willst du schließlich nicht vor jedem x-Beliebigen machen, der dir vielleicht sogar total unsympathisch ist.

   Bevor ich Cem kennengelernt habe, hatte ich überhaupt kein Interesse an einer neuen Beziehung. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt und mich im Team der neuen Kollegen wohlgefühlt, besonders weil Axel mein enger Freund wurde. 

   Eigentlich ist er das immer noch, er hat nur leider so wenig Zeit für mich, was ich aber natürlich total verstehe. Ich mag Luzie unheimlich gern und bin kein bisschen eifersüchtig. Wie könnte ich auch. Aber er ist einfach nicht mehr für mich da. Und genauso wird es jetzt mit Cem laufen. Der wird nur noch Zeit mit seiner Kollegin verbringen.« 

   Anke schloss den Satz mit einem unwillkürlichen kleinen Schluchzen, das Michelle mehr rührte als die ganze Geschichte, die Anke erzählt hatte, die Michelle aber in groben Zügen bereits gekannt oder sich zusammengereimt hatte, jedenfalls den Teil, der Axel und Anke betraf. 

   »Lass dich von dieser Staatsanwältin nicht ausbooten. Kämpf um ihn, wenn er dir so wichtig ist. Aber vorher solltest du erst einmal mit dir selbst ins Reine kommen«, schlug Michelle vor. Anke tat ihr leid. Daher nahm sie sich in diesem Moment vor, sie bei der Bewältigung ihrer Probleme zu unterstützen, so gut sie nur konnte. Eine erste Idee hatte sie schon, aber die behielt sie noch für sich. Bloß keine Hoffnungen wecken, die sich möglicherweise nicht erfüllen ließen. 

 

*

 

Leni Schleier sah noch gerade den orangefarbenen Müllwagen um die Ecke biegen, als sie mit zwei Stofftaschen voller Lebensmittel auf die Benrather Villa zusteuerte, die sie zusammen mit Till bewohnte, vielmehr noch bewohnte. Der Vormittag hatte ihr drastisch vor Augen geführt, dass es so einfach nicht weiterging. Ihre Ehe war am Ende. So weit - so gut oder schlecht. Es war ihr egal. 

   Allerdings lehnte sie Tills Vorstellung ab, sie sollte diejenige sein, die sich eine neue Bleibe suchte. Schließlich war sie es gewesen, die das Haus liebevoll eingerichtet hatte und die sich seit Jahren um seine Pflege und den Garten kümmerte. Till hatte dafür keine Hand gerührt. Es musste nur immer alles tipptopp sein, damit er nur ja nicht in eine kreative Schaffenskrise geriet. 

   Natürlich hatte er das nötige Geld verdient, aber sie hatte ihm schließlich den Rücken freigehalten. Genau das hatte er immer gewollt. Und sie hatte immer alles getan, was er wollte, jedenfalls meistens und am Anfang sicherlich erfolgreicher als in den letzten Jahren. Es war also nicht sie, die hier unbedingt wegwollte. Sie würde sich sogar mit Händen und Füßen dagegen wehren. Er konnte zu seiner Freundin ziehen, sie dagegen hatte keinen vergleichbaren Rückzugsort.

   Sie öffnete das Gartentor und stellte fest, dass es ein klein wenig quietschte. Sie würde sich darum kümmern müssen. Sie nahm beide Stofftüten in eine Hand, um mit der anderen die leere Mülltonne wieder auf ihren Platz schieben zu können. Mit Blick auf die Haustür stellte sie fest, dass sie immerhin einen kleinen Sieg errungen hatte. Die Schmierereien waren, wenn auch relativ unprofessionell, abgewischt worden und der Zettel mit dem Gedicht war auch verschwunden. Sie spürte den Anflug eines Triumphs. 

   Sie hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, die Schweinerei zu beseitigen. Schließlich hatte sie ganz sicher nicht ihr, sondern Till gegolten. Offenbar hatten die Verse ihn dann doch so sehr gestört, dass er selbst zu Lappen und Reinigungsmittel gegriffen hatte, um die Provokation zu entfernen. Leni lächelte zufrieden.

 

*

 

Auf dem Weg von der Kantine in ihre Büros plauderten Anke und Michelle über belanglose Themen. Michelle hatte dazu übergeleitet, um Anke Gelegenheit zu geben, sich wieder ein bisschen zu sammeln, bevor sie auf Otto oder Axel treffen würde. Anke griff diesen Themenwechsel dankbar auf und stellte nach Jahren der Zusammenarbeit endlich fest, dass Michelle nicht nur eine ausgezeichnete Polizistin war, sondern ganz offenbar auch ein besonders netter und feinfühliger Mensch. 

   Bislang waren die beiden Frauen immer ein wenig auf Abstand zueinander geblieben, weil die zugehörigen beruflichen Partner Axel und Martin sich anfangs überhaupt nicht verstanden und einen zähen Kleinkrieg gegeneinander geführt hatten. Das hatte sich zwar in letzter Zeit gebessert, aber von einem freundschaftlichen Verhältnis waren sie noch weit entfernt. 

   So bildete also Anke zusammen mit Axel das erfolgreiche A-Team und Michelle und Martin saßen mittlerweile nicht nur beruflich, sondern auch privat gemeinsam im anderen Boot. Erst das Auftauchen des neuen Kollegen Adrian Roth im vergangenen Jahr hatte die beiden Männer ein wenig von ihren Positionskämpfen innerhalb des KK 11 abgelenkt, weil kaum etwas eine Gruppe so zusammenschweißt wie ein gemeinsames Feindbild. 

   Der Kollege Roth hatte es rigoros abgelehnt, sich in das bestehende Gefüge des KK 11 zu integrieren, und so war er nach ein paar Monaten schon wieder Geschichte, allerdings nicht vollständig. Weil man ihm keine ernsthaften Dienstvergehen vorwerfen konnte, war er lediglich in eine andere Abteilung versetzt worden, und zwar ins Betrugsdezernat. Dort war es ihm gelungen, eine Nischentätigkeit zu ergattern, die ihm persönlich sehr entgegenkam, weil sie ihm alle Freiheiten bot und ihm die übrigen Ermittler der Abteilung vom Hals hielt. 

   Die meiste Zeit saß er allein in seinem Büro vor dem Computer und verfolgte die mehr oder weniger erfolgreichen Betrügereien von Tätern, die sich ihre Opfer im Internet suchten. In diesem Job musste er nicht allzu viel mit Menschen kommunizieren - und wenn doch, dann war er als Einzelkämpfer unterwegs und musste sich nicht auch noch mit einem Team herumplagen. Gewöhnlich saß er aber zufrieden in seinem höhlenartigen Büro, und zwar von neun bis exakt siebzehn Uhr. Aus dieser Höhle entfernte er sich wenn möglich nur morgens und abends auf dem Hin- und Rückweg von und nach zuhause sowie mittags zu einer ausgedehnten Pause. Schließlich kontrollierte ihn niemand. 

   Auf dem Flur lief er an diesem Mittag Michelle und Anke über den Weg. Er nickte ihnen kühl zu, weil er die beiden ehemaligen Kolleginnen nicht völlig ignorieren konnte. Anke erwiderte den knappen Gruß fast noch knapper, während Michelle, die sich nach wie vor nicht vorstellen konnte, dass ein Mensch nur unangenehme Seiten hatte, lächelnd sagte: »Hallo, Herr Roth, Sie sind bestimmt auf dem Weg in die Kantine. Guten Appetit. Die Lasagne kann man wirklich sehr empfehlen, aber lassen Sie bloß die Finger vom Vanillepudding. Der Koch bettelt geradezu darum, wegen Körperverletzung eingebuchtet zu werden.«

   »Wenn schon, dann gefährliche Körperverletzung, weil dann ja vermutlich Gift im Spiel ist«, grummelte er. »§ 224 Strafgesetzbuch«, fügte er hinzu.

   Anke verdrehte die Augen, während Michelle immer noch lächelte, wenn auch etwas verkrampfter. »Ihnen auch einen schönen Tag, lieber Kollege«, sagte sie unaufrichtig, setzte dann aber ohne weitere Gesprächsversuche ihren Weg in ihr Büro fort.

   Allein an ihrem Schreibtisch suchte sie in ihren Kontakten nach einer ganz bestimmten Nummer, klickte die an und führte kurz darauf ein kurzes, aber erfolgreiches Privatgespräch mit einer Freundin aus Duisburger Schulzeiten. Sie verabredete sich mit ihr und wandte sich dann im guten Gefühl, einen Schritt vorangekommen zu sein, ihrem vor dem Essen unterbrochenen langweiligen Bericht über einen abgeschlossenen Fall zu. 

   Deshalb war sie ganz und gar nicht unglücklich, als Axel nach einem kurzen Klopfen den Kopf durch den Türrahmen steckte und sie in Ottos Büro rief. »Beeil dich«, sagte er gut gelaunt. »Wir haben eine Leiche und es sieht ganz nach Mord oder Totschlag aus.«

   Michelle speicherte ihren noch nicht ganz fertigen Bericht ab und folgte Axel so schnell sie konnte. Anke stand bereits vor Ottos Schreibtisch, und da Martin ja nicht in Düsseldorf war, war das kleine Team vollzählig. Otto forderte gerade telefonisch eins der Poolfahrzeuge an. Danach wandte er sich an die anderen: »Wir starten in fünf Minuten. Man hat eine männliche Leiche gefunden in einem Garten im Düsseldorfer Süden. Offenbar ist der Mann erschlagen worden. Mehr weiß ich noch nicht.«

 

*

 

Leni Schleier saß mit einer mitfühlenden Polizistin in der Küche ihres Hauses und trank eine Tasse Kaffee. Lieber wäre ihr jetzt ein hochprozentigeres Getränk gewesen, aber in Anwesenheit der Polizei blieb sie jetzt wohl doch besser erst einmal nüchtern.

   Die junge Polizistin bemerkte Lenis zittrige Hand beim Heben der Tasse. »Gleich sind die Kollegen von der Kripo da. Wenn Sie mit denen gesprochen haben, gibt Ihnen der Arzt bestimmt etwas zur Beruhigung. Es muss Ihnen ja fürchterlich gehen, Sie Ärmste.«

   Leni trank einen Schluck Kaffee und nickte bestätigend. Schließlich ging es die Polizistin nichts an, dass sich ihre Trauer um ihren toten Ehemann in überschaubaren Grenzen hielt. »Ja, es war ein Schock«, sagte Leni. »Ich wollte doch nur die Mülltonne wieder an ihren Platz stellen. Und genau da lag er.«

   Es klingelte. »Soll ich?«, fragte die Polizistin. Leni nickte. Die Frau stand auf und öffnete ihren Kollegen von der Kripo, die sich als solche auswiesen, die Tür.

  »Wollen Sie zuerst den Toten sehen oder mit Frau Schleier sprechen?«, fragte die Polizistin.

   »Der Tote hat Vorrang«, sagte Otto. Er wollte sich lieber erst ein Bild von der Lage machen, bevor er mit der Ehefrau sprach, die möglicherweise die Täterin, vielleicht aber auch nur eine Zeugin war, und sich entweder als total aufgelöst oder besonnen bis apathisch präsentieren würde. Die Polizistin führte die Ermittler durch den Vorgarten und ein kleines Tor an der Seite der Garage entlang in den eigentlichen Garten. Hinter den Garagen standen zwei Mülltonnen, eine blaue und eine gelbe, während eine leere dunkelgraue Restmülltonne mit halb geöffnetem Deckel umgekippt auf dem Weg lag.

   Zwischen diesen Tonnen lag ein eindeutig toter Mann, dem offenbar mit einer daneben liegenden blutigen Schaufel der Schädel eingeschlagen worden war. Ein Schutzpolizist stand ein paar Meter entfernt und bewachte den Toten. Otto kniete sich neben die Leiche, deren Gesicht man gut erkennen konnte, weil sich die Verletzungen auf den Hinterkopf beschränkten. Die geöffneten Augen starrten leblos in den Novemberhimmel. Jemand - vielleicht er selbst, vielleicht aber auch der Täter - hatte ein zusammengerolltes Blatt Papier in die Tasche seiner Winterjacke gesteckt, aus der es deutlich sichtbar herausragte. 

   Axel betrachtete den Toten stirnrunzelnd und fragte die Kollegen: »Sagt mal, ist das nicht dieser Kabarettist, dieser Till Schleier?« 

   Jetzt kam auch Anke ein paar Schritte näher und betrachtete den Toten. »Na klar ist er das. Ich war gestern Abend in seiner Vorstellung. Das gibt es doch gar nicht. Und ihr kommt nicht darauf, wo er sein Programm gespielt hat - im P(l)ayback Theater.«

   »Kaum zu glauben, dass er den Auftritt dort überlebt und am nächsten Tag trotzdem erschlagen wird«, sagte Axel und spielte damit auf einen Fall an, bei dem im vergangenen Jahr im P(l)ayback Theater zwei Schauspieler während der Vorstellung von einem herabfallenden riesigen Kronleuchter getötet worden waren. Damals hatte Axel im Zuschauerraum gesessen.

   »Das Theater scheint den Künstlern kein Glück zu bringen«, stellt Michelle fest.

   »Naja, wir wissen doch noch gar nicht, ob es überhaupt eine Verbindung zwischen der Tat hier und dem Theater gibt«, entgegnete Anke. 

   Otto quälte seine Hände in zu enge Plastikhandschuhe und entfernte vorsichtig das zusammengerollte Blatt Papier aus der Jackentasche des Toten. »Ein Gedicht«, stellte er verblüfft fest und überflog es. Auf den ersten Blick sagte es ihm gar nichts.

   Axel wandte sich an die Polizistin, die ihnen die Tür geöffnet hatte. »Wer hat ihn denn gefunden?«

   »Seine Frau. Sie sitzt in der Küche und wartet darauf, mit euch zu sprechen, Kollegen.«

   »Michelle und Anke, würdet ihr mal nach ihr schauen?«, bat Otto. Die beiden Frauen machten sich zusammen mit der jungen Polizistin auf den Weg in die Küche des Hauses. Leni Schleier saß noch immer am Küchentisch vor ihrer inzwischen kalt gewordenen Tasse Kaffee und schaute auf, als die drei Frauen hereinkamen. Anke und Michelle stellten sich vor, kondolierten Leni und baten sie darum, möglichst genau zu berichten, was denn passiert sei.

   »Ich kam vom Einkaufen zurück.« Leni Schleier wies auf die beiden Stofftaschen, die immer noch gefüllt mit Lebensmitteln auf dem Fußboden neben der Tür standen. »Die Müllabfuhr war gerade da gewesen und hatte wie immer die Tonne auf dem Bürgersteig stehen lassen. Ich habe sie mit auf das Grundstück genommen. Dann habe ich meine Tüten an der Haustür abgestellt und wollte erst einmal die Tonne hinter die Garage bringen. Da lag dann mein Mann. Ich habe sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen war, bin wieder nach vorne gerannt, habe die Tür aufgeschlossen und dann sofort die Polizei angerufen. Ein paar Minuten später kam ein Streifenwagen. Das ist alles, was ich weiß.«

   »Um in den Garten zu kommen, muss man durch ein kleines Tor zwischen Haus und Garage. War das normalerweise abgeschlossen?«, fragte Otto, der mittlerweile mit Axel auch in die Küche gekommen war und die letzten Sätze gehört hatte.

   »Nein, nie.«

   »Also hätte jeder einfach so in den Garten gehen können?«

   »Ja, das stimmt«, bestätigte Leni Schleier. »Vielleicht handeln wir da etwas zu sorglos, aber die Nachbarn machen es nicht anders. Abends vor dem Zubettgehen verschließen wir natürlich die Tür zur Veranda. Außerdem haben wir eine Alarmanlage, die wir abends einschalten.«

   »Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte? Hatte Ihr Mann Feinde?«

   »Ich weiß nicht, ob Sie ihn erkannt haben. Mein Mann war ein relativ bekannter Kabarettist, Till Schleier. Wenn man so einen Beruf ausübt, eckt man natürlich bei anderen an. Ob man diese Leute Feinde nennen kann, weiß ich nicht. Aber egal was er gesagt hat, es gab immer irgendwen, der das überhaupt nicht lustig fand, und ihn im Netz massiv angegriffen hat. Aber bisher waren das nur verbale Attacken.«

   Otto fand Leni Schleier bemerkenswert kühl und sachlich, wenn man bedachte, dass sie gerade ihren mit einer Schaufel erschlagenen Ehemann gefunden hatte. 

   »Ich meinte jetzt auch weniger irgendwelche anonymen Kritiker seines Programms, sondern eher Menschen aus seinem Umfeld, mit denen er möglicherweise Streit hatte«, erklärte Otto.

    »Till war kein einfacher Mensch. Er war sehr intelligent, witzig und schlagfertig und hätte für eine gute Pointe wahrscheinlich seinen besten Freund verkauft. Es war zwar anregend, mit ihm zusammen zu sein, aber man brauchte ein ganz schön dickes Fell.«

   »Und das hatten Sie?«, wollte Otto wissen.

   »Gelegentlich«, erwiderte Leni Schleier, relativierte diese ehrliche Antwort aber sofort, weil sie ein gutes Gespür dafür hatte, wie andere Menschen auf sie reagierten. Sie bemühte sich also um einen offenen und ehrlichen Gesichtsausdruck und sagte: »Ich war an Tills Art gewöhnt. Wir hätten in ein paar Monaten unsere Silberhochzeit gefeiert. Und mir gegenüber war er auch nie wirklich bösartig oder verletzend. 

   Aber er war halt nicht der Durchschnittsehemann, der meistens freundlich ist, Blumen mit nach Hause bringt und freiwillig den Müll entsorgt. Er war der Mittelpunkt des Seins, die Sonne, um die die Planeten kreisten. Und einer dieser Planeten war ich. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, werde ich mich sehr bemühen müssen, eine neue Umlaufbahn zu finden.«

   »Können Sie mir Namen und Kontaktdaten seiner besten Freunde und engsten Mitarbeiter geben?«

   »Das wird schwierig. Er hatte zwar einen riesigen Bekanntenkreis, aber wirklich enge Freunde gab es nicht. Wenn Sie mit jemandem sprechen wollen, der ihn gut gekannt hat, wenden Sie sich am besten an seinen Bühnenpartner Patrick Neubert.« Leni Schleier zupfte einen Zettel von einem Zettelblock und schrieb einen Namen und eine Telefonnummer darauf. Den Zettel reichte sie Otto.

   »Gab es in letzter Zeit irgendwelche besonderen Ereignisse, aus denen man eine Bedrohung hätte ablesen können?«, fragte Otto mehr aus Routine als in der Hoffnung auf eine erfolgversprechende Antwort.

   Leni Schleiers Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass ihr in diesem Moment ein Gedanke in Erinnerung gerufen wurde, der durch die Ereignisse des Vormittags völlig in den Hintergrund gedrängt worden war. »Ja, natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Die Schmierereien an der Tür.«

   Otto wartete geduldig, bis sich die Witwe gefasst und die Geschichte von der blutrot beklecksten Tür und dem Gedicht erzählt hatte.

   »Ein Gedicht? Kann ich das bitte mal sehen?«, fragte Otto.

   Leni Schleier schüttelte den Kopf. »Nein, mein Mann hat es heute Morgen wohl entsorgt. Er hat auch die Farbe von der Tür abgewaschen. Das Blatt Papier war mit Farbe verschmiert. Deshalb glaube ich nicht, dass er es aufbewahrt hat. Aber ich weiß, dass er gestern Fotos davon gemacht hat.«

   »Mit dem Fotoapparat oder mit seinem Handy?«, wollte Otto wissen.

   »Mit dem Handy. Haben Sie es bei ihm gefunden?«

   »Nein, so gründlich haben wir ihn noch nicht durchsucht. Wir warten auf den Arzt und wollen das Opfer vorher so wenig wie möglich bewegen. Könnten Sie vielleicht einmal nachschauen, ob es hier irgendwo herumliegt?«

   Leni stand auf und verließ die Küche, um wenig später mit einem Smartphone in der Hand zurückzukommen. Sie reichte es Otto mit den Worten: »Es lag auf seinem Schreibtisch.«

   »Kennen Sie die PIN und könnten es für mich entsperren?«

   Leni nickte, tippte ein paar Ziffern ein und reichte das Handy an Otto zurück. Der öffnete die Fotodatei. Die letzten Bilder zeigten eine rot verschmierte Haustür, an die ein Blatt Papier geheftet war. Auf einem weiteren Foto war nur das Blatt Papier zu sehen, so dass man den Text darauf gut lesen konnte. Otto las die beiden Strophen laut vor:

 

„Ich tauchte manchmal die Finger hinein

Und manchmal ist es geschehen,

Dass ich die Haustürpfosten bestrich

Mit dem Blut im Vorübergehen.

 

Und jedes Mal, wenn ich ein Haus

Bezeichnet in solcher Weise,

Ein Sterbeglöckchen erscholl fernher,

Wehmütig wimmernd und leise.« 

 

 »Das hört sich doch stark nach einer Drohung an«, sagte Axel. »Kennt jemand das Gedicht?«

   »Ich habe es zunächst für Rilke gehalten. Ich fand, es höre sich nach ihm an. Mein Mann hat aber heute Morgen behauptet, es sei von Heinrich Heine«, sagte Leni Schleier.

   »Ist es das gleiche Gedicht wie auf dem Blatt Papier in der Jackentasche des Getöteten?«, fragte Anke. 

   Während Otto die ersten beiden Zeilen des Gedichtes, das man an der Haustür gefunden hatte, googelte, holte Michelle das Blatt aus der Jackentasche des Toten, das zwischenzeitlich in einem Beweisbeutel auf die weitere Verwendung gewartet hatte. Sie las vor:

 

»Sie sang das alte Entsagungslied, 

Das Eiapopeia vom Himmel,

Womit man einlullt, wenn es greint,

Das Volk, den großen Lümmel. 

 

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, 

Ich kenn auch die Herren Verfasser,     

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein,

Und predigten öffentlich Wasser.«

 

»Das habe ich schon mal gehört«, sagte Axel nachdenklich. Seine kurze Recherche im Internet ergab, dass es sich in beiden Fällen, also an der Haustür und in der Jackentasche, um Strophen aus Heinrich Heines Versepos »Deutschland. Ein Wintermärchen« handelte.

   »Verrückt«, stellte Axel fest. »Da kündigt ein Mörder seine Tat am Vorabend in Form eines uralten Gedichtes an und steckt dem Opfer mit dem zweiten Teil eine Art Bestätigungsschreiben in die Tasche, damit man auch genau weiß, er hat seinen Job erledigt.«

   Otto wandte sich wieder an Leni Schleier: »Hatte Ihr Mann irgendeinen Bezug zu diesem Gedicht oder zu Heinrich Heine?«

   Die Witwe schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Gestern Abend, als wir den Zettel und die verschmierte Tür entdeckt haben, hatte er keine Ahnung, wer die Verse verfasst hatte. Er hat jedenfalls nicht widersprochen, als ich vermutet habe, sie seien von Rilke. Erst heute Morgen hat er mir gesagt, er habe herausgefunden, dass sie von Heinrich Heine stammten.« 

   »Merkwürdig«, stellte Otto fest und nahm sich vor, sobald wie möglich seine Frau zu kontaktieren. Rita Tjombe arbeitete als Dozentin für Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität und hatte vor nicht allzu langer Zeit in einem Seminar Leben und Werk Heines mit dem Jane Austens vergleichen müssen. Bei ihr durfte er also zumindest auf Grundkenntnisse hoffen, was das »Wintermärchen« anging. »Wann haben Sie denn Ihren Mann zuletzt lebend gesehen?«, fragte er Leni Schleier.

   »Das muss so gegen elf, halb zwölf heute Vormittag gewesen sein.«

   »War das bei einem frühen Mittagessen oder bei was für einem Anlass?«, bohrte Otto nach.

   »Wir haben an der Haustüre gestanden und über die Schmiererei diskutiert. Ich habe vorgeschlagen, die Polizei zu benachrichtigen, weil ich die Verse als Drohung aufgefasst habe. Aber mein Mann wollte nichts davon hören. Ich habe wohl recht behalten.« Der leise triumphierende Unterton blieb niemandem verborgen.

   »Sie sind bemerkenswert gefasst, Frau Schleier, wenn man bedenkt, dass Ihr Mann erst vor ein paar Stunden das Opfer einer Gewalttat geworden ist. Haben Sie sich immer so im Griff oder geht Ihnen der Tod Ihres Mannes nicht wirklich nahe?«, wollte Otto wissen.

   »Natürlich geht er mir nahe«, antwortete Leni Schleier erbost. »Halten Sie mich für ein Monster? Allein die Tatsache, dass ich ihn in solch einem schrecklichen Zustand gefunden habe, macht mich völlig fertig. Schließlich ist er nicht friedlich in seinem Bett eingeschlafen, sondern sein Schädel wurde eingeschlagen.«

   »Das hört sich fast so an, als ob Sie sich mit seinem Tod einigermaßen abfinden könnten, nur nicht mit der Art und Weise, wie er gestorben ist«, provozierte Otto. Die Witwe war ihm mehr als suspekt. Er fand ihre Reaktion unangemessen und ohne jede Empathie. 

   »Sagen wir mal, der Lack war schon etwas ab von unserer Ehe, aber dennoch bedauere ich Tills Tod sehr. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie es jetzt finanziell weitergeht. Till hat ausgesprochen gut verdient, aber in Zukunft kann er wohl kaum noch auf der Bühne stehen und für unseren Lebensunterhalt sorgen. Ich habe auf Bitten meines Mannes meinen Beruf aufgegeben und muss jetzt sehen, wo ich bleibe. Es ist alles nicht so einfach für mich.«

   »Sollen wir irgendjemanden benachrichtigen, der sich in den nächsten Stunden um Sie kümmert? Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte Michelle.

   Leni Schleier schüttelte den Kopf. »Ich würde mich jetzt nur gerne ein bisschen hinlegen. Mein Kreislauf ist nicht besonders stabil. Wenn Sie mich also im Moment nicht mehr brauchen, würde ich mich jetzt zurückziehen. Aber ich bleibe im Haus. Sie werden mich also finden, wenn es erforderlich sein sollte.«

   Otto stimmte zu und Leni ging erleichtert in ihr Schlafzimmer, wo sie feststellte, dass ihre Hände so zitterten, dass sie nur mit Mühe die Ginflasche öffnen konnte. Sie sparte sich die Suche nach einem Glas und trank direkt aus der Flasche.

   Die Ermittler gingen zurück in den Garten, wo inzwischen der Gerichtsmediziner Maik Wessel sowie die Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen waren. Maik hatte seine erste etwas oberflächliche Untersuchung beendet und begrüßte Otto und sein Team herzlich.

   Er deutete er auf den am Boden liegenden Toten und sagte: »In diesem Fall kann auch ein Laie die Todesursache ohne große Schwierigkeiten erkennen, es sei denn die Obduktion ergibt noch ein südamerikanisches Pfeilgift in seinem Magen. Jemand hat ihm von hinten, mutmaßlich mit diesem Spaten, an dem, wie ihr seht, nicht unerhebliche Teile seines Gehirns kleben, mit großer Wucht den Schädel eingeschlagen. Es war eine Menge Kraft erforderlich oder eine Menge Wut. Falls das Opfer beim Angriff gestanden hat, gehe ich davon aus, dass der Täter ähnlich groß war. Den Getöteten schätze ich auf etwa 1,70 Meter. Er ist noch nicht allzu lange tot. Ich würde mal sagen, er ist zwischen zwölf und ein Uhr heute Mittag gestorben.«

  »Das deckt sich mit der Auskunft seiner Frau, die ihn gegen elf, halb zwölf zum letzten Mal lebend gesehen hat und ihn kurz vor eins gefunden hat. Ihr Notruf ist um 12.58 Uhr bei der Leitstelle eingegangen.«

   Maik wandte sich an die Spurensicherung. »Ihr könnt jetzt loslegen. Ich bin hier fertig.«

   Otto teilte einem der Mitarbeiter der Spurensicherung mit, dass er aus der Jackentasche des Toten ein zusammengerolltes Stück Papier entnommen habe, auf dem sich ein Gedicht von Heinrich Heine befand. Er bat darum, die Jackentaschen besonders gründlich zu untersuchen. Maik winkte und verließ den Tatort.

   Die vier Beamten des KK 11 gingen ein Stück weiter in den Garten hinein zu einer zweiten Terrasse, die sich dicht neben der Grundstücksgrenze befand. Sie ließen sich auf den Stühlen nieder, um sich kurz zu beraten, wie es in diesem ungewöhnlichen Fall weitergehen sollte.

   »Die Ehefrau macht einen sehr verdächtigen Eindruck«, sagte Axel. »Der Tod ihres Mannes scheint sie völlig kalt zu lassen. Wir sollten unbedingt mit Menschen aus dem Umfeld der Schleiers sprechen und uns über deren Beziehung informieren.«

   Otto nickte. Das sah er ganz ähnlich. »Die erste Anlaufstelle könnte dieser Bühnenpartner Patrick Neubert sein. Mit dem muss sofort jemand Kontakt aufnehmen. Ich werde nachher mit Rita telefonieren und sie bitten, alles über dieses »Wintermärchen« herauszufinden, was für uns wichtig sein könnte. Sie hat sich beruflich intensiv mit Heine beschäftigen müssen. Das sollten wir nutzen. Irgendeine Bedeutung müssen diese Verse doch haben.«

   »Wir sollten auf jeden Fall bald mit den Nachbarn sprechen. Das sind doch immer die Ersten, die mitbekommen, wenn es in einer Ehe kriselt. Vielleicht hat auch jemand von ihnen den Täter beobachtet, ohne zu wissen, was er auf dem Grundstück wollte«, schlug Anke vor. 

   Otto entschied, dass Anke und Michelle die Nachbarn abklappern sollten, während er und Axel versuchen wollten, Patrick Neubert aufzustöbern. Vielleicht kannte der noch weitere Kontaktpersonen Till Schleiers, mit denen es sich lohnen würde, Gespräche zu führen.

  »Was machen wir denn mit der lustigen Witwe?«, fragte Axel. »Können wir die jetzt einfach sich selbst überlassen?«

   »Ich glaube nicht, dass von ihr irgendeine Gefahr ausgeht, weder für sich selbst noch für andere. Also lassen wir sie jetzt wirklich erst einmal ein bisschen zur Ruhe kommen«, bestimmte Otto.

 

*

 

Anke und Michelle klingelten zuerst bei den direkten Nachbarn, deren Grundstück dem Fundort der Leiche am nächsten lag. Bei ihnen schien die Chance, dass sie etwas beobachtet hatten, am größten zu sein.

   Eine etwas zerbrechlich wirkende alte Dame, gekleidet in einen karierten Tweedrock und ein farblich passendes dunkelgrünes Twinset, öffnete die Tür. Sie trug eine doppelreihige schwere Perlenkette, die die zierliche Person zu erdrücken schien. Ihr weißes Haar hatte einen dezent lilafarbenen Schimmer, den vermutlich ein ziemlich teurer Friseur verursacht hatte.

   »Ja bitte?«, fragte sie mit leiser, kultivierter Stimme. Michelle erklärte, wer sie waren und was sie sich durch ihren Besuch erhofften.

   »Ja, wir haben schon mitbekommen, dass nebenan etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist«, seufzte die Nachbarin, die inzwischen ihren Nachnamen Rosenberg verraten hatte. »Das ganze Blaulicht und die Sirenen und die Polizei und das Absperrband. Das sah ja aus wie sonntags beim ›Tatort‹. Können Sie mir denn verraten, was passiert ist?«

   »Dürfen wir hereinkommen, Frau Rosenberg?«, bat Anke. »Drinnen beantworten wir gerne Ihre Fragen.«

   »Aber selbstverständlich«, sagte Frau Rosenberg und trat einen Schritt beiseite. »Bitte hier entlang.« Sie deutete auf eine Tür, die in ein riesiges Wohnzimmer führte, das mit Perserteppichen doppelt und dreifach ausgelegt war, sodass man vom Marmorboden kaum noch etwas sah. Schwere Möbel vervollständigten das klischeehafte Bild eines Raums, in dem ein wohlhabendes älteres Ehepaar lebte.

   In einem ebenso hochwertig wie gemütlich wirkenden Ohrensessel in einer Ecke saß offenbar der zugehörige Ehemann, der beim Anblick der Besucherinnen höflich aufstand.

  »Günter, das sind die Damen Blum und Hellmich von der Kriminalpolizei. Die beiden möchten mit uns über die Vorkommnisse bei den Schleiers reden.«

   Günter Rosenberg nickte bekümmert und deutete auf die üppige Couchgarnitur: »Bitte nehmen Sie doch Platz, meine Damen. Können wir Ihnen irgendetwas anbieten?« 

   Anke und Michelle lehnten höflich ab und versanken in den weichen Polstern der riesigen Eckcouch. Sie verständigten sich kurz mit einem Blick und Anke begann das Gespräch.

   »Ihr Nachbar, Till Schleier, ist heute Mittag in seinem Garten einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Wir wüssten gern, ob Sie irgendetwas bemerkt haben, vielleicht einen Besucher, der in der Zeit zwischen zwölf und dreizehn Uhr das Grundstück Ihrer Nachbarn betreten hat. Auch für alle anderen Informationen, die uns eventuell bei der Suche nach dem Täter weiterhelfen könnten, wären wir Ihnen äußerst dankbar. Wenn überhaupt jemand etwas gesehen hat, dann wahrscheinlich Sie.«

   Günter Rosenberg starrte die Polizistinnen an. Man merkte ihm seinen Schock über die Mitteilung deutlich an. Frau Rosenberg fragte völlig entgeistert: »Sie meinen also, da ist jemand um die Mittagszeit in den Garten unseres Nachbarn eingedrungen und hat ihn dort ermordet?«

   Anke und Michelle nickten. »So sieht es leider aus. Haben Sie denn irgendetwas davon mitbekommen?«

   »Nein, nicht das Geringste«, antwortete Günter Rosenberg, der immer noch unter dem Eindruck der Nachricht stand, die er ganz offensichtlich noch nicht annähernd verarbeitet hatte. »Da ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher.« Er wandte sich an seine Frau und sagte: »Solange dieser Fall nicht geklärt ist, möchte ich nicht, dass du allein in den Garten gehst, Anneliese. Wenn hier ein Mörder sein Unwesen treibt, müssen wir uns schützen.« 

   »Waren Sie denn um diese Zeit überhaupt zu Hause?«, wollte Michelle wissen. 

   Das Ehepaar nickte im Gleichklang. »Ich war in der Küche und habe unser Mittagessen vorbereitet«, erklärte Frau Rosenberg.

   »Und ich habe in meinem Arbeitszimmer gesessen und ein paar Überweisungen getätigt. Ich war vorher ein paar Stunden im Garten, um den auf den Winter vorzubereiten. So gegen elf habe ich damit aufgehört, habe mich gesäubert und danach an meinem Schreibtisch gesessen.«

   »Während Sie im Garten gearbeitet haben, ist vermutlich nichts Besonderes vorgefallen. Oder haben Sie irgendjemanden oder irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt?«

   »Nein, nichts«, sagte Günter Rosenberg mit fester Stimme.

   »Günter, das stimmt doch gar nicht«, mischte sich seine Frau ein.

   »Halt du dich da bitte raus, Anneliese. Du hast doch gehört, dass der Mörder zwischen zwölf und ein Uhr mittags gekommen ist. Alles, was vorher war, spielt doch überhaupt keine Rolle.«

   »Das ist nicht gesagt, Herr Rosenberg. Ihre Frau hat recht. Wenn Sie schon vorher irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt haben, sind wir auch für solche Informationen dankbar.«

   »Naja, ungewöhnlich war es leider nicht«, sagte Frau Rosenberg spitz.

   »Anneliese, ich möchte nicht darüber sprechen«, murrte Herr Rosenberg. »Das Ganze geht uns überhaupt nichts an.«

   »Dann helfen Sie uns doch bitte weiter, Frau Rosenberg«, bat Anke diplomatisch.

   »Unsere Nachbarn haben sich heute Vormittag - wieder einmal muss ich leider sagen - so laut gestritten, dass mein Mann, der gerade die Hecke zwischen den Grundstücken gestutzt hat, fluchtartig den vorderen Teil des Gartens verlassen hat, um nicht Zeuge weiterer lautstarker Auseinandersetzungen zwischen Herrn und Frau Schleier zu werden.«

   »Anneliese …«, protestierte ihr Mann, allerdings schon nicht mehr ganz so vehement.

   Michelle wandte sich an Herrn Rosenberg und sagte freundlich: »Es ehrt Sie, dass Sie Ihre Nachbarn nicht bloßstellen wollen, aber hier geht es um die Aufklärung eines Verbrechens. Bitte überwinden Sie Ihre eigentlich sehr lobenswerte Zurückhaltung und helfen uns weiter. Es gab also einen Streit zwischen Herrn und Frau Schleier. Konnten Sie verstehen, um was genau es ging?«

   Herr Rosenberg gab resigniert seine Zurückhaltung auf und antwortete: »Irgendjemand hatte offenbar in der Nacht rote Farbe über die Haustür der Schleiers gegossen. Es sah furchtbar aus. Ich nehme an, der Schmierfink wollte den Eindruck erwecken, es sei eine Menge Blut geflossen. Herr Schleier verlangte von seiner Frau, die Schmiererei sofort zu entfernen, und war sehr verärgert darüber, dass das noch nicht geschehen war. Frau Schleier weigerte sich und sagte, sie sei nicht seine Putzfrau und er möge doch selbst zu einem Lappen greifen. Danach warfen die beiden sich alles Mögliche an den Kopf, wie man das eben so tut, wenn man wütend ist.

   Dabei wurden sie immer lauter. Herr Schleier forderte seine Frau auf, die gemeinsame Villa zu verlassen, weil seiner Meinung nach die Ehe gescheitert sei. Frau Schleier lachte ihn aus und meinte, ihr Mann solle doch ausziehen, wenn er es mit ihr nicht mehr aushalte. An diesem Punkt habe ich die Flucht ergriffen.«

   »Das verstehe ich sehr gut«, sagte Michelle mitleidig. »Das hätte wahrscheinlich jeder vernünftige Mensch getan. Also können Sie mir vermutlich nicht sagen, wie die Auseinandersetzung ausgegangen ist?« 

   Herr Rosenberg schüttelte den Kopf. 

   Anke wandte sich wieder an Frau Rosenberg: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann war das nicht die erste lautstarke Auseinandersetzung, die Sie mitanhören mussten?«

   »Leider nein«, bestätigte Frau Rosenberg. »Die beiden haben sich ständig gestritten wie die Kesselflicker, und das leider eben nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern gerne auch mal auf der Terrasse oder im Garten, so dass wir einfach nicht umhinkonnten, die ehelichen Probleme der beiden ständig zu verfolgen.«

   »Wer von Ihnen wohnt denn schon länger hier, die Schleiers oder Sie?«, fragte Anke.

   »Wir wohnen hier schon seit vierzig Jahren. Die Schleiers sind aber auch nicht erst kürzlich zugezogen. Ich schätze mal, sie leben hier auch schon seit zehn bis fünfzehn Jahren. Genauer kann ich es Ihnen leider nicht sagen.

   Am Anfang waren sie sehr angenehme Nachbarn. Wir haben uns gegenseitig kaum gestört. Gelegentlich haben sie mal ein etwas zu lautes Gartenfest gegeben, manchmal sogar mit Livemusik, aber das ließ sich alles ganz gut verkraften. Erst in den letzten zwei bis drei Jahren scheint es mit der Ehe nicht mehr zu funktionieren. Ich befürchte, das liegt auch am Alkoholkonsum von Frau Schleier.«

   »Anneliese, jetzt ist es aber gut. Das geht uns nun wirklich nichts an.« 

   Frau Schleier machte eine wegwerfende Handbewegung, führte aber nicht weiter aus, was sie von Leni Schleiers Trinkgewohnheiten hielt.

  »Wie geht es Frau Schleier denn?«, fragte Günter Rosenberg mitleidig. »Können wir da vielleicht irgendwie helfen? Schließlich kennt man sich doch schon so lange.«

  »Frau Schleier hat sich gerade etwas hingelegt, aber sie hat wohl keine Verwandte oder Freunde, die sie jetzt gerne sehen möchte. Sie ist also allein im Haus. Vielleicht wäre es tatsächlich hilfreich, wenn Sie heute Abend oder morgen früh mal nach ihr schauen würden.«

  »Das machen wir bestimmt«, versicherte Anneliese Rosenberg. »Ich bringe ihr heute Abend ein paar Schnittchen vorbei. Ich vermute, sie braucht eine Grundlage.«

   »Anneliese!«

   »Ja was denn? Glaubst du, sie bleibt ausgerechnet heute Abend nüchtern?«

   »Sie ist bei Ihnen bestimmt in guten Händen«, versicherte Anke mit mehr Hoffnung in der Stimme, als sie tatsächlich verspürte.

 

*

 

Otto hatte telefonisch Patrick Neuberts Frau erwischt, die ihm verraten hatte, dass ihr Mann gerade zusammen mit Till Schleier im P(l)ayback Theater probte, wo sie am Abend auftreten wollten. Otto verlor keine Zeit damit, sie aufzuklären, sondern bedankte sich nur kurz und machte sich zusammen mit Axel auf den ihm nur zu gut bekannten Weg in das kleine Theater, wo das Team des KK 11 im Vorjahr so viele Stunden damit verbracht hatte, den Mordfall rund um einen Kronleuchter aufzuklären.

   Die beiden Ermittler trafen Patrick Neubert auf der Bühne, wo er bereits ungeduldig auf seinen Kabarettpartner wartete. Neubert saß am Klavier und spielte gerade die französische Nationalhymne, als Otto und Axel im Rhythmus der Melodie auf die Bühne marschierten. Der Musiker sah sie erstaunt an. Otto stellte sich und Axel vor und verkündete dann die Nachricht vom gewaltsamen Tod Till Schleiers. 

   Patrick Neubert war zutiefst schockiert. Aus seinem Gesicht wich sämtliche Farbe. Nach einer kurzen Pause fragte er, ob sich Otto ganz sicher sei, dass es sich bei dem Gefundenen wirklich um Till handele und falls ja, war er wirklich tot oder vielleicht doch nur schwer verletzt?

  »Wir sind uns ganz sicher, Herr Neubert. Frau Schleier hat ihren Mann zweifelsfrei identifiziert und sowohl der Notarzt als auch unser Gerichtsmediziner haben seinen Tod bestätigt. Was bringt Sie auf den Gedanken, es könne sich um jemand anderen gehandelt haben?«

  »Das war keine Vermutung, sondern eine Resthoffnung«, sagte Patrick Neubert.

  »Er war offenbar ein sehr guter Freund von Ihnen«, vermutete Axel aufgrund Neuberts Reaktion.

   Der Musiker drehte sich zu Axel hin und schüttelte dann den Kopf: »Wenn ich ehrlich bin, war er das ganz und gar nicht, besonders nicht in letzter Zeit. Offen gestanden hat meine Verzweiflung eher finanzielle Gründe. Mit Tills Tod bricht für mich meine berufliche Basis zusammen. Ich habe sehr gut davon gelebt, mit ihm zusammen auftreten zu können. Ich bin beileibe kein schlechter Musiker, aber es würde wahrscheinlich niemand in eine Vorstellung kommen, nur um mich am Piano zu erleben. Da bin ich Realist. 

   Till und ich haben gut zusammengearbeitet. Ich habe durch meine Musik seine Kabarettabende aufgelockert und war sein Sidekick, also sein Stichwortgeber. Ich habe dumme Fragen gestellt, auf die er dann die entsprechend intelligenten Antworten gegeben hat. Diese Rollenverteilung war völlig in Ordnung für mich, weil sie mir meinen Lebensunterhalt gesichert hat. Jetzt bin ich ratlos. Ich weiß nicht, wie es finanziell weitergehen soll.« 

   Otto nickte verständnisvoll. Patrick Neubert bat ihn und Axel um einen Moment Geduld. Er wollte kurz mit der Theaterleitung sprechen, damit die dafür Sorge tragen konnte, dass die Abendvorstellung abgesagt wurde. Das Publikum würde man zwar nicht mehr erreichen können, aber immerhin konnte man das Personal verständigen und ein Schild an der Eingangstür anbringen.

   Otto und Axel verließen zusammen mit Patrick Neubert die Bühne und setzten sich in die Theaterbar, wo sie auf die Rückkehr des Musikers warteten. Der war Minuten später schon wieder zur Stelle und setzte sich zu den beiden Beamten von der Kriminalpolizei.

   »Wie lange kannten Sie Till Schleier schon? Und seit wann haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?«, wollte Otto wissen.

   »Ungefähr zehn Jahre. Ich habe ihn bei einem Kabarettwettbewerb kennengelernt, an dem wir beide teilgenommen haben, er mit seinen Texten und ich mit meinen Liedern. Wir haben uns damals auf Anhieb ganz gut verstanden und sind auf die Idee gekommen, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Das hat von Anfang an gut geklappt und so sind wir dabei geblieben. 

   Allerdings lief es in den letzten ein bis zwei Jahren nicht mehr so rund und zwar auf beiden Ebenen, der privaten wie der beruflichen. Till und ich haben uns rein persönlich immer weiter voneinander entfernt, aber auch die Zuschauerzahlen und das positive Feedback wurden geringer.

   Ich habe in den letzten Monaten viel darüber nachgedacht, was wir wohl ändern müssten, um wieder an unsere Erfolge der Anfangszeit anzuknüpfen. Aber das wäre eigentlich Tills Job gewesen. Ich war immer nur der zweite Mann auf seiner Bühne. An mir und meinen Liedern hat sich niemand gerieben.«

   »Aber ist es denn nicht die Aufgabe eines Kabarettisten, überall anzuecken?«, wunderte sich Axel.

   »Ganz so ist das nicht«, antwortete Patrick Neubert. »Jeder Kabarettist bedient ein ganz bestimmtes Publikumssegment. Die klassische Zielgruppe sind die politisch links orientierten Lehrer so um die fünfzig. Die finden es auch in Ordnung, wenn die SPD oder die Grünen mal ihr Fett abbekommen, aber im Grunde richtet sich das von ihnen präferierte Programm gegen die Konservativen, also eher gegen CDU und FDP, und ganz gewiss gegen die AfD. 

   Es gibt aber natürlich auch das genaue Gegenteil, Kabarettisten, die die rechte Szene bedienen und die Linken lächerlich machen. 

   Ein immer wichtigeres Segment sind die Jüngeren, die gern Comedy und Kabarett mit teilweise verrückten Ideen miteinander verquickt sehen und von Leuten wie Jan Böhmermann und noch wesentlich jüngeren Kollegen bedient werden. Sie sehen also, es handelt sich ganz und gar nicht um eine homogene Szene. Till hat bis vor ein, zwei Jahren versucht, die linke Elite zu bespaßen, ohne dabei die nachrückenden Jüngeren zu vernachlässigen. Rechts war er nie. Aber in letzter Zeit hat er viele Menschen unter fünfzig dadurch verprellt, dass er zu pragmatisch wurde und dabei die Ideale auf der Strecke blieben. 

   Er hat ordentlich Gegenwind im Netz bekommen. Heute wollten wir uns zum Beispiel hier treffen, weil er eine neue Nummer zum Themenkomplex Gendern und kulturelle Aneignung geschrieben hat, die gestern Abend bei unserem letzten Auftritt eindeutig durchgefallen ist. 

   Till meinte, wir müssten vielleicht noch ein bisschen daran feilen, aber wenn Sie mich fragen, hätte er diese Nummer am besten in den Papierkorb werfen sollen oder wenigstens total überarbeiten müssen. Aber mich hat ja niemand gefragt, zumindest Till nicht«, stellte er mit einem resignierten Unterton fest.

   Axel, der zusammen mit Luzie ein häufiger Gast zum Beispiel im Kom(m)ödchen war, nickte. Er hielt Patrick Neuberts Erklärungen für durchaus stichhaltig 

   »Sie erklären das sehr gut. Ich hatte selbst schon so ein diffuses Gefühl, dass mich Till Schleier, den ich früher sehr geschätzt habe, in letzter Zeit nicht mehr wirklich erreicht. Ich fand seine Ansichten zum Teil altbacken und überhaupt nicht mehr witzig. Ich weiß noch ganz genau, dass ich vor ein paar Jahren Tränen gelacht habe in einem seiner Programme. Ich erinnere mich übrigens an Sie, auch wenn ich Sie ehrlich gesagt damals eher am Rande wahrgenommen habe.«

   »Das ist mein Schicksal«, lächelte Patrick Neubert. »Aber damit und davon kann ich ausgesprochen gut leben - oder konnte es zumindest bisher.«

   »Dann erzählen Sie uns doch bitte auch von Ihren persönlichen Problemen mit Till Schleier, die sie eben angedeutet haben«, bat Otto.

   »Till Schleier war ein narzisstischer Egozentriker«, antwortete der Musiker ebenso schlicht wie kompromisslos. »In Ansätzen war er das auch schon vor zehn Jahren, aber da wurden seine negativen Eigenschaften noch durch sein Charisma verdeckt. In letzter Zeit ging aber dieses Charisma immer mehr verloren und sein Egoismus trat in den Vordergrund.

   Alles musste genau so laufen, wie er das wollte. Alles musste sich um ihn drehen. Die übrigen Menschen hatte der liebe Gott nur geschaffen, um ihm ein frenetisch jubelndes Publikum zu bieten. Das machte den Umgang mit ihm zunehmend unangenehm. 

   Ich persönlich bin ein sehr anpassungsfähiger Mensch und mit meiner Rolle als Nebendarsteller ganz zufrieden, wenn die mir den Lebensunterhalt sichert. Allerdings: So amüsant war Till Schleier dann auch wieder nicht und so viel weniger unterhaltsam bin ich vielleicht doch nicht. Aber unser Logo zum Beispiel bestand nur aus der Narrenkappe Till Eulenspiegels und dem Namen Schleier. Theoretisch hätte man unser Duo ja auch Schleier & Neubert nennen können, aber so etwas wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Die Gefühle seiner Mitmenschen interessierten ihn nicht. 

   Fragen Sie doch mal seine Frau. Die kann Ihnen das wahrscheinlich viel genauer schildern, als ich dazu in der Lage bin. Ich hatte ja immerhin das Glück, nach unseren Auftritten nach Hause gehen zu dürfen. Sie dagegen hat ständig die volle Breitseite abbekommen und hat das wohl auch nicht mehr ganz so gut weggesteckt. So wie es in letzter Zeit lief, wäre es vermutlich bald zu einer Trennung zwischen den beiden gekommen.«

   »Woraus schließen Sie das?«, wollte Otto wissen.

   »Leni Schleier ist genau wie ich ein anpassungsfähiger Mensch. Anderenfalls wäre sie nicht seit über zwanzig Jahren mit Till verheiratet. Aber in letzter Zeit hatte ich den Eindruck, dass sie immer unglücklicher wurde mit Till und der ganzen Situation. Es war nicht mehr zu übersehen, dass sie ihren Kummer im Alkohol ertränkt hat. 

   Das wiederum hat Till auf die Palme gebracht, weil es einfach nicht sein konnte, dass sie ihn nur noch betrunken aushielt. Er hat sie also immer mehr unter Druck gesetzt und sie hat daraufhin immer mehr getrunken. Ewig konnte das nicht so weitergehen.«

   »Deuten Sie damit an, dass Frau Schleier möglicherweise etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun gehabt haben könnte?«, fragte Axel.

   »Ich deute in dieser Hinsicht gar nichts an. Till war in letzter Zeit so unangenehm, dass er eine Menge Leute zum Ausrasten gebracht haben könnte.«

   »Das trifft offenbar auch auf Sie zu. Wo haben Sie sich denn heute zwischen zwölf und dreizehn Uhr aufgehalten?«

   Patrick Neubert lachte höhnisch. »Halten Sie mich für so dumm, die Gans zu schlachten, die für mich die goldenen Eier gelegt hat? Ich war heute Mittag zu Hause, was Ihnen meine Frau sicherlich bestätigen wird.«

   »Können Sie uns vielleicht mit ein paar Namen versorgen? Sie haben eben gesagt, er sei einer ganzen Reihe von Leuten auf den Schlips getreten. Um wen handelt es sich dabei?«

   »Schauen Sie mal im Internet nach. Sie werden feststellen, es gibt massenweise Leute, die ihn nicht mochten. Andererseits kann ich mir niemanden vorstellen, der jemanden umbringt, nur weil ihm seine politische Meinung nicht behagt.«

   Axel hatte keine Lust, seinem Gesprächspartner jede Menge historischer Beispiele zu liefern, die diese These eindrucksvoll widerlegt hätten. Deshalb kam er auf Till Schleier zurück. »Ich dachte auch eher an Leute, die er persönlich beleidigt oder angegriffen hat, die also ein konkretes Interesse daran haben könnten, ihn zu verletzen oder zu töten.«

   »Ich habe keine Ahnung, ob er sich mit irgendwelchen Nachbarn oder Freunden angelegt hat. Ich weiß nicht mal, ob er noch viele Freunde hatte. In der Öffentlichkeit hat er sich immer tadellos benommen, um seinem Image keine Kratzer zuzufügen. Ich glaube, die Hauptleidtragende war wirklich Leni, wobei ich hier wirklich nicht unterstellen will, dass sie irgendetwas mit seinem Tod zu tun hat. Im Gegenteil, eine Gewalttat traue ich Leni Schleier ganz und gar nicht zu. Aber ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich in nächster Zeit von ihrer Scheidung erfahren hätte.«

   »Sind bei den Schleiers vielleicht schon neue Partner oder Partnerinnen im Spiel?«

   Patrick Neubert griff nach einem Notizblock, der auf der Bartheke lag und einem danebenliegenden Bleistift. Nachdem er sein Handy befragt und etwas auf den Block gekritzelt hatte, riss er das oberste Blatt ab und reichte es Otto. Der las den Namen Rebekka Töpfer und eine Telefonnummer. Otto sah ihn fragend an. Aber Neubert sagte nur kurz: »Ich kommentiere das nicht. Sie können da ja mal anrufen. Schaden wird es sicher nicht.«

 

*

 

Die Atmosphäre in Cem Arats Büro knisterte. Es lag jede Menge Spannung in der Luft, angereichert durch eine Prise Erotik. Cem konnte es immer noch nicht fassen. Vor seinem Schreibtisch auf einem der Besucherstühle saß plaudernd und lachend der neue Stern am Himmel der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, die, wie nicht nur Cem fand, wunderschöne junge Kollegin Jenny Lichtenberg. Für ihn war sie nicht etwa deshalb ein Star, weil sie das Strafgesetzbuch herauf- und herunterbeten konnte, sondern weil sie optisch selbst vor Gericht in der düsteren und unförmigen Robe noch wie ein Filmstar wirkte. 

   Dabei mochte Cem Roben, ganz besonders seine eigene, weil sie ihm nicht nur Autorität verlieh, sondern auch seine Figur umschmeichelte, die mittlerweile ein wenig an Pu, den Bären, erinnerte. Außerdem verdeckte sie gelegentlich Flecke auf seiner Kleidung, die er dem Kantinenessen verdankte. 

   Bei diesem informellen Gespräch in seinem Büro trug Jenny natürlich keine Robe und auch sonst nichts, was ihren Gesprächspartner daran hätte hindern können festzustellen, wie vorteilhaft sich ihre Formen unter Pulli und Jeans abzeichneten. Ihre langen blonden Haare, die sie während der Verhandlungen zu einem strengen Dutt aufzustecken pflegte, trug sie offen.

   Cem schluckte. Was brachte diesen Lottogewinn von Frau nur dazu, privat seine Nähe zu suchen? Irgendetwas stimmte doch da nicht. Er war ein ganz normaler, nicht besonders attraktiver Mittvierziger, an dem das einzig Dünne seine schwindende Haarpracht war. Wenn er also überhaupt Stärken hatte, woran er gelegentlich zweifelte, dann lagen die eindeutig nicht im optischen Bereich. 

   Jenny war sich dieser Tatsache durchaus bewusst, fand ihn aber trotzdem einfach zum Knuddeln. Nun gut, er war ein bisschen alt und ein bisschen dick. Aber was waren schon gut zehn Jahre, und an der Figur konnte man schließlich arbeiten. Dafür war er der netteste Staatsanwalt weit und breit und dazu auch noch witzig und empathisch. Mit schönen jungen Männern hatte Jenny bereits Erfahrungen gemacht, die sie nicht unbedingt wiederholen wollte.

   »Also, wie ist es? Kommst du nun mit oder nicht?«, fragte sie Cem bereits zum zweiten Mal. Cem hatte jedoch längst den Gesprächsfaden verloren, weil er sich in den letzten Minuten so intensiv dem sich ihm bietenden erfreulichen Anblick und seinen düsteren Gedanken hingegeben hatte.

   »Entschuldige bitte, ich war gerade etwas abgelenkt. Könntest du deine Frage wiederholen? Wohin soll ich kommen?«

   Jenny lachte perlend und zeigte dabei ihre ebenmäßigen weißen Zähne. »Warum glaube ich dir nicht? Ich bin sicher, du wolltest meine Frage einfach weder hören noch verstehen.«

   »Es ist doch ganz normal, dass ich mich nicht konzentrieren kann, wenn du in diesem Outfit vor mir sitzt.«

   Jenny sah an sich herab, konnte aber nur feststellen, dass sie ganz alltägliche Jeans und einen wenig spektakulären Pulli trug. Daran konnte es ihrer Meinung nach nun wirklich nicht liegen, dass Cem wirres Zeug redete.

   »Erst musst du meinem Vorschlag zustimmen, dann sage ich dir noch einmal genau, um was es geht.«

   »Das meinst du jetzt nicht wirklich ernst. Soll ich etwa zustimmen, einen Mord für dich zu begehen und danach erklärst du mir die Modalitäten der Tat?«

   »So ähnlich«, lachte Jenny. »Aber es handelt sich nicht um einen Anschlag auf ein Menschenleben, sondern auf deine Faulheit und deine mangelnde Kondition. Morgen bringst du Joggingklamotten mit ins Büro und im Anschluss an unser segensreiches Schaffen für Recht und Ordnung laufen wir eine Runde am Rhein.«

   »O nein!«, jammerte Cem. Er würde sich fürchterlich blamieren, wenn ihm bereits nach ein paar hundert Metern die Puste ausging, weil er Jennys Tempo nicht würde mithalten können. Im Sommer war er ein paarmal mit Anke gelaufen. Das hatte richtig Spaß gemacht. Sie waren beide ganz entspannt nebeneinander hergetrabt. 

   Warum hatten sie das eigentlich nicht fortgesetzt? Dann hätte er jetzt eine andere Figur und eine bessere Kondition. Und Jenny müsste gar nicht erst versuchen, ihn in Bewegung zu bringen. Neben ihr hatte er jedenfalls keine Lust zu keuchen, zu schwitzen und hinterher auch noch zu hinken, weil er sich unweigerlich mindestens eine Blase laufen würde.

   »Leider passt es morgen Nachmittag überhaupt nicht«, log Cem schamlos, während sein Smartphone verkündete, ihn wolle jemand sprechen. Er sah auf dem Display, dass es sich um Anke handelte. Verflixt, ausgerechnet jetzt.

   »Tut mir leid, da muss ich rangehen. Es ist Oberkommissarin Hellmich vom KK 11.«

   Jenny nickte lächelnd. Dienst war schließlich Dienst.

   »Hallo Anke«, begann er vorsichtig, »was kann ich für dich tun?« 

   Anke erzählte ihm - für ihre Verhältnisse relativ aufgeregt - dass man sie an diesem Nachmittag zur Leiche Till Schleiers gerufen hatte, der in seinem eigenen Garten mit einer Schaufel hinterrücks erschlagen worden war. »Damit hatte ich gestern nun wirklich nicht gerechnet«, beendete sie ihren Bericht.

   »So schlecht war er nun auch wieder nicht«, bestätigte Cem. »Puh. So eine Nachricht ist für mich ja eigentlich nichts Besonderes, aber wenn man das Opfer am Abend vorher noch gesehen hat, nimmt einen das doch etwas mehr mit. Habt ihr schon eine Vermutung, wer es getan hat?«

   »Ich halte seine Frau für verdächtig. Die Ehe war wohl nicht besonders glücklich und sie reagiert ziemlich kühl und irgendwie gleichgültig. Aber im Prinzip haben wir noch keine Ahnung. Ein Detail ist sehr merkwürdig. Man hat in seiner Tasche zwei Verse von Heinrich Heine gefunden und am Abend vor seinem Tod hat wohl jemand zwei andere Verse von Heine an seine Haustür gepinnt und die dann auch noch mit roter Farbe beschmiert. Vielleicht war es also doch nicht seine Frau, sondern ein verrückter Literaturliebhaber. 

   Du wirst ja noch früh genug alles offiziell erfahren, aber ich wollte dich schon mal vorab informieren, weil wir ja bei den Letzten waren, die ihn lebend gesehen haben.«  Sie machte eine kleine Pause und fragte dann: »Wie geht es dir?« 

   Cem hörte Ankes Stimme und sah dabei in Jennys lächelndes Gesicht. Was für eine blöde Situation.

   »Ich melde mich später noch mal, Anke, wenn ich es schaffe. Ansonsten sehen wir uns spätestens morgen bei der Besprechung. Ich werde schauen, dass man mir den Fall zuteilt.«

   Cem konnte und wollte den Fluchtreflex aus dieser unbehaglichen Situation nicht mehr ignorieren. Er legte auf und teilte dann Jenny mit, er müsse jetzt leider dringend arbeiten, unter anderem, weil er gerade erfahren habe, dass ein neuer, möglicherweise spektakulärer Fall am Horizont der Staatsanwaltschaft Düsseldorf aufgetaucht sei.

 

*

 

Otto hatte sich dafür entschieden, das Gespräch mit Rebekka Töpfer auf den nächsten Tag zu verschieben. Axel und er trennten sich also vor dem P(l)ayback Theater. Axel versprach, noch mit Frau Töpfer Kontakt aufzunehmen, um mit ihr einen Termin zu vereinbaren. Dann machten sich beide auf den Weg nach Hause. 

   Axel ließ wegen des usseligen Wetters ausnahmsweise sein Fahrrad am Präsidium stehen und stieg in eine Bahn der Wehrhahnlinie, die ihn nach Gerresheim brachte, wo er seit einem guten Jahr zusammen mit Luzie lebte. Mittlerweile hatte er sich ganz gut in dem für sein Gefühl relativ beschaulichen Stadtteil eingelebt und vermisste seine alte Umgebung in der Innenstadt nicht mehr ganz so schmerzlich. 

   Während Axel noch mit der Bahn unterwegs war, stellte Otto bereits seinen Wagen in der zu seinem Haus gehörenden Tiefgarage ab und fuhr mit dem Aufzug in die Dachgeschosswohnung, in der Familie Tjombe lebte. Es war noch ein bisschen früh für den Feierabend, ganz besonders an einem Tag, an dem ein gewaltsamer Todesfall die Mitarbeiter des KK 11 aufgescheucht hatte, aber Otto entschuldigte seine frühe Heimkehr vor sich selbst damit, dass er sich noch umfangreichen Recherchen zum Thema Heinrich Heine widmen würde. Und zwar zusammen mit  der besten aller Informantinnen, seiner Frau Rita. 

   Rita war zwar nicht Dozentin für Germanistik, sondern für Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität - kaum zu glauben, wo überall in Düsseldorf dieser Name auftauchte - und ihr Fachgebiet war eigentlich die englische Schriftstellerin Jane Austen, aber Otto konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie vor ein paar Jahren ziemlich widerwillig ein Seminar hatte leiten müssen, das sich mit dem Vergleich von Jane Austens und Heinrich Heines Leben und Werk beschäftigt hatte. Ritas gutes Gedächtnis war Otto nur zu präsent. Es hatte im Umgang mit ihr seine Vor- aber durchaus auch Nachteile. Heute hoffte er davon zu profitieren. 

   Rita war allein zu Haus und schnippelte in der Küche Gemüse für das Abendessen. Otto nahm sich immerhin die Zeit, ihr einen Begrüßungskuss zu geben, bevor er sie mit seinem Anliegen überfiel. Er hatte es doch nicht mehr geschafft, sie schon vorher telefonisch vorzubereiten. Er skizzierte kurz den Fall Schleier und schickte ihr die Fotos der am Tatort gefundenen Verse auf ihr Handy. »Bisher weiß ich nur, dass diese Zeilen alle aus dem Gedicht ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ stammen. Für jede zusätzliche Info bin ich dir dankbar.«

   »Das ist ja spannend«, fand Rita, drückte ihrem Mann ihr Gemüsemesser in die Hand und wies auf einen Berg Zwiebeln und ein paar Möhren. »Ich muss mein Gedächtnis ein bisschen auffrischen. In der Zeit kannst du schon mal mit dem Abendessen weitermachen.«

   Eine halbe Stunde später hatte Otto seine Tränen getrocknet und das Gemüse brutzelte im Ofen. Im Wohnzimmer traf er seine Frau, die gerade aus ihrem Arbeitszimmer gekommen war.

   »Ich bin soweit«, sagte sie. »Ich kann dir jetzt einen groben Überblick geben.«

   »Das wäre perfekt«, antwortete Otto und machte es sich auf der Couch bequem. 

   Rita hatte sich ein paar Notizen gemacht und begann mit ihrer Vorlesung. Diesmal hatte sie zwar nur einen Zuhörer, aber der war immerhin ganz Ohr, was man von ihren Studenten und Studentinnen nicht immer behaupten konnte. 

   »›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ ist ein satirisches Gedicht von Heine, das er 1844 im Alter von siebenundvierzig Jahren geschrieben hat. Heine, der, wie du ja weißt, in Düsseldorf geboren wurde, lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit dreizehn Jahren im Pariser Exil, weil er in Deutschland als konvertierter Jude keine Möglichkeit hatte, seinen erlernten Beruf als Jurist auszuüben. Aber auch als Schriftsteller und Satiriker war er für die Obrigkeit sehr verdächtig. Man zensierte und verfolgte ihn. Deshalb blieb ihm letztlich nur das Exil. Er wählte Frankreich, weil er die dort bestehende geistige Freiheit und Leichtigkeit schätzte. Außerdem bewunderte er Napoleon, der allerdings zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zwanzig Jahre tot und daher Geschichte war.

   1843 beschloss er, von Paris nach Hamburg zu reisen, um seine dort lebende Mutter und seinen Verleger noch einmal zu treffen. Auf der Rückreise ist das »Wintermärchen« entstanden. Sein Verleger Julius Campe hat es trotz der politischen Risiken tatsächlich veröffentlicht. Kurz nach dem Erscheinen wurde es in Preußen verboten und beschlagnahmt und ein Haftbefehl gegen Heine erlassen. Du siehst also, es handelt sich um ein sehr politisches Gedicht, auch wenn wir so einiges an Geschichtskenntnissen brauchen, um überhaupt zu verstehen, wie sehr Heine da gegen die Herrschenden austeilt.

   Das »Wintermärchen« besteht aus mehr als fünfhundert jeweils vierzeiligen Strophen, die in siebenundzwanzig Kapitel aufgeteilt sind. Vier der Strophen habt ihr am Tatort gefunden. 

   Eigentlich handelt es sich um eine Reisebeschreibung. Heine betritt in Aachen wieder deutschen Boden und fährt über Köln, Hagen und den Teutoburger Wald nach Paderborn. Von dort aus geht es über Minden, Bückeburg und Hannover nach Hamburg, wo er tatsächlich seine Mutter, Julius Campe und andere alte Freunde trifft. Zwischendurch unterhält er sich aber auch mit fiktiven Gesprächspartnern wie dem Vater Rhein, mit König Barbarossa und mit Hamburgs Schutzheiliger Hammonia. Im Grunde ist es egal, mit wem er redet, es geht um die vielfach verklausulierten feinen Spitzen gegen das politische System in Deutschland. 

   Das »Wintermärchen« war lange Zeit umstritten und galt in seiner Entstehungszeit und dann auch noch besonders im Nationalsozialismus als Schmähschrift eines jüdischen Nestbeschmutzers, eines Vaterlandsverräters. 

   Ich weiß nicht genau, wie weit deine deutschen Geschichtskenntnisse reichen«, Rita sah ihren Mann liebevoll an, »schließlich bist du in Namibia aufgewachsen und zur Schule gegangen. Deshalb ein ganz kurzer Exkurs: Zu jener Zeit hatte man Napoleons Herrschaft überstanden und Deutschland bestand aus vielen kleinen Staaten, die sich im Deutschen Bund zusammengeschlossen hatten. Es war eine Zeit des Umbruchs. Die industrielle Entwicklung begann gerade Fahrt aufzunehmen und die Revolution von 1848 stand kurz bevor. Heine hatte also genug Ansatzpunkte für seine messerscharfe Kritik gegen ein veraltetes, engstirniges politisches System. 

   Jetzt noch kurz zu den vier Strophen deines Mordfalles. Die beiden, die ihr an der Haustür gefunden habt, die anfangen mit ›Ich tauchte manchmal die Finger hinein‹ sind die Verse elf und zwölf aus Caput VII, also dem siebten Kapitel. Die beiden Strophen aus der Tasche des Toten, die beginnen mit ›Sie sang das alte Entsagungslied‹, sind aus Caput I, und zwar handelt es sich um die Strophen sieben und acht. Caput I ist eine Art Einleitung. In Caput VII befindet sich Heine gerade in Köln. Er schläft und träumt davon, mit einem dunklen Begleiter durch die Straßen zu gehen. Diese Gestalt spricht dann auch die Verse zu ihm.«

   »Ein dickes Dankeschön an dich«, sagte Otto und gab Rita einen Kuss. »Damit hast du mir ein paar Stunden mühselige Recherche erspart, auch wenn ich immer noch nicht viel schlauer bin, was der Täter uns mit diesem Gedicht mitteilen will.«

   »Wenn der Tote, wie du sagst, Kabarettist war, hat er vielleicht einen besonderen Bezug zu Heine. Vielleicht hat er mal Heine-Abende gegeben oder einzelne Gedichte in seinem Programm rezitiert. Heine war zu seiner Zeit im weitesten Sinne auch so etwas wie ein Kabarettist, auch wenn er nicht vor Publikum aufgetreten ist. Aber er hat mit satirischen Wortspielen die Politiker angegriffen und teilweise sogar lächerlich gemacht. Till Schleier könnte also durchaus in Heinrich Heine eine verwandte Seele gesehen haben.«

   »Das dürfte seine Frau wohl wissen. Die werden wir morgen sowieso noch mal gründlich befragen müssen. Im Moment halte ich sie für unsere Hauptverdächtige. Offenbar stand es mit der Ehe nicht zum Besten. Wenn diese mysteriösen Verse nicht wären, würde so gut wie alles auf sie hinweisen. Aber warum sollte sie ein Gedicht zitieren, wenn es nur um eine gewöhnliche Beziehungstat geht?«

   »Vielleicht will euch der Täter mit dem Inhalt der Verse auf etwas hinweisen. Die ersten beiden Strophen sind doch, wenn man die späteren Ereignisse berücksichtigt, eine klare Warnung: Dort, wo man Blut am Türpfosten findet, läutet kurze Zeit danach das Sterbeglöckchen. Vielleicht wollte der Mörder Till Schleier auf diese Weise noch eine faire Chance geben, diesem Schicksal durch besondere Vorsicht zu entgehen. Oder aber das genaue Gegenteil ist der Fall: Der Mörder wollte ihn verunsichern und nervös machen. 

   Die beiden Strophen, die ihr bei der Leiche gefunden habt, könnten darauf hinweisen, dass es sich bei Schleier um einen Heuchler gehandelt hat. Die Rede ist vom alten Entsagungslied, dem Eiapopeia vom Himmel. Das bedeutet, dass das Volk gefälligst Ruhe geben soll mit Forderungen nach Wohlstand und Glück, weil ihm ja ohnehin spätestens im Jenseits das Paradies winkt. Diejenigen aber, die das von den Bürgern verlangen, also in Heines ›Wintermärchen‹ die Politiker und Kleriker, predigen zwar Wasser, trinken aber heimlich Wein, wollen also selbst auf nichts verzichten, was sie von anderen aber verlangen. 

   Ich kenne Till Schleiers Texte nicht gut genug, aber da könnte es doch Parallelen geben. Vielleicht hat er in seinen Programmen Verhaltensweisen gefordert, die er selbst nicht beherzigt hat.«

   Otto machte sich eine Notiz, um diese komplizierte Frage am nächsten Tag noch parat zu haben.

  »Ich fürchte, ich komme doch nicht darum herum, dieses Gedicht mal ganz zu lesen«, sagte er ohne große Begeisterung. »Du hast doch bestimmt ein Exemplar.«

   Rita ging in ihr Arbeitszimmer und kam mit einem roten Buch zurück. Otto blickte sie erschrocken an und fragte: »Der ganze Band?«

   Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber fünfhundert Strophen sind es schon. Ich habe ein Lesezeichen an den Anfang gesteckt.«

   Nach dem Abendessen streckte sich Otto, in einer Hand eine Flasche Bier, in der anderen den Heine-Band, auf der Couch aus und begann schicksalsergeben zu lesen:

 

Im traurigen Monat November war’s,

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riss von den Bäumen das Laub,

Da reist ich nach Deutschland hinüber.

 

Wenige Verse später fielen ihm die Augen zu. Die letzten Worte, die er schon reichlich verschwommen gelesen hatte, waren:

 

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

   

Otto versuchte in seinem Traum einen gewaltigen Schwarm Vögel davon abzuhalten, sein Ofengemüse zu stibitzen. Immer wieder flogen Spatzen neue Angriffe auf seinen Teller. 

   Rita nahm sanft die Flasche aus der Hand ihres schlafenden Mannes und holte ihm eine Wolldecke. Es war kühl im traurigen Monat November.

 

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